Betty kann alles
verfügte und noch so gut angezogen war, kaum zu einer Besprechung vorgelassen.
Wie gut erinnere ich mich an meine erste Erfahrung mit «Erfahrung». Ich war damals sechzehn Jahre alt, hatte Weihnachtsferien und nicht die geringste Lust zu arbeiten. Ich wünschte mir, daheim zu bleiben, Weihnachtskarten zu malen, Puppenkleider für Dede und Alison zu schneidern und es mir gemütlich zu machen. Aber Mary hatte taktloserweise eine Aushilfsstelle in einem Warenhaus angenommen, wo sie Geschenke um viele Prozente billiger einkaufen konnte, und da auch Cleve sich als Ausläufer betätigte und bereits einen gold- und orangebemalten Fruchtkorb mit einem riesigen Blumenarrangement aus Gips an einer Seite als Geschenk für Mutter heimgeschleppt hatte, war ich mir bewußt, mit meinen üblichen selbstfabrizierten Gaben nicht konkurrieren zu können. Es blieb mir nichts übrig, als mich um Arbeit zu bemühen.
Ich erkundigte mich bei Mary, wie ich es anstellen sollte, und sie sagte: «Geh in ein Warenhaus und frage, ob sie eine Aushilfe brauchen. Wenn sie dich fragen, ob du schon mal gearbeitet hast, sagst du ‹klar› und nennst irgendeinen Laden, aber paß auf, daß du nicht den nennst, in dem du gerade stehst.»
Unglücklicherweise war ich zu schüchtern, um zu lügen, und so antwortete ich denn auf meiner Runde durch die Warenhäuser auf die Frage: «Haben Sie schon gearbeitet?» wahrheitsgemäß: «Nein.» «Keine Erfahrung und stiehlt uns unsere Zeit!» zeterten die Personalchefs, und ich schlich mich kleinlaut davon.
«Ohne Erfahrung bekommst du keine Stellung, und ohne Stellung kannst du keine Erfahrung erwerben», klagte ich unter Tränen meiner Mutter, und so rief sie denn ihren guten Freund Chauncy Randolph an, dem eines der großen Warenhäuser gehörte, und erzählte ihm, was für gute Zensuren ich in der Schule bekommen hätte und wie hübsch ordentlich ich mein Zimmer immer auf räumte. «Aber natürlich, Sydney», erwiderte Mr. Randolph. «Schick Betsy morgen zu mir. Wir werden schon irgendeine Tätigkeit für sie finden.» Und so trottete ich denn am nächsten Tag abermals los, und Mr. Randolph war gut und lieb und redete mit mir, wie mein Großvater mütterlicherseits immer mit mir geredet hatte, und dann begleitete er mich zu seinem Personalchef. Obwohl der Personalchef mich nicht als das schüchterne Geschöpf wiedererkannte, das er am Vortage schimpfend fortgeschickt hatte, schien er nicht sonderlich erfreut über meinen Anblick.
«Schon mal gearbeitet?» brummte er, als der liebe gute Mr. Randolph uns den Rücken gekehrt hatte.
«Noch nie in einem Warenhaus», stammelte ich.
«Was haben Sie denn bisher gemacht?» forschte er, den Bleistift über irgendein Formular gezückt.
«Ich habe auf Kinder aufgepaßt und im Hause geholfen», bekannte ich.
«Du lieber Himmel! Und wie kommen Sie darauf, ausgerechnet bei uns arbeiten zu wollen?»
Ich hätte einfach erwidern können: «Weil der Besitzer ein guter Freund meiner Mutter ist, bäh!» Aber statt dessen sagte ich mit Tränen in den Augen nur: «Ich weiß selbst nicht.» Der Personalchef sah mit versteinertem Gesicht ein oder zwei Minuten zum Fenster hinaus, ging dann ans Telefon und instruierte jemanden namens Burke, daß er im Büro ein Mädchen habe, das im Lager arbeiten könne. Zum Abschluß fügte er hinzu: «Rothaarige Bekannte von Randolph – keine Übung, keine Erfahrung und keine Ahnung von Arbeit.» Das letzte wurde mit einem tiefen Seufzer vorgebracht.
Er hatte den Hörer gerade wieder aufgelegt, als Mr. Randolph lächelnd zurückkehrte und, um die Freundschaft zwischen uns zu festigen, einen Taschenkamm hervorzog, mir damit durchs Haar fuhr, dann meine widerspenstigen Locken mit einer Schildpattspange bändigte und sagte: «So, jetzt schauen wir hübsch und ordentlich aus und können an die Arbeit gehen. Ich war eben unten und habe mich umgesehen. In der Schalabteilung können sie jemand gebrauchen. Würde dir das gefallen, Betsy, spanische Schals zu verkaufen?»
«O ja», stimmte ich voller Begeisterung zu. «Ich studiere doch Kunstgeschichte.»
«Ich weiß, mein Kind, deine Mutter hat mir das erzählt.» Mr. Randolph nahm meinen Arm und geleitete mich hinaus, und als ich mich in der Türe umwandte, um mich vom Personalchef zu verabschieden, machte er ein Gesicht wie unsere Katze an dem Tag, als wir ihr das Rotkehlchen entrissen.
Ich zeichnete mich nicht besonders aus in der Schalabteilung. Meine Additionen stimmten nicht ganz, und
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