Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)
lächelte die ganze Zeit und flirtete ständig, machte Komplimente, wünschte allen einen wunderschönen Tag und versprach jedem, der am Ende der Telefonleitung war, dass er beziehungsweise sie die allerhöchste Priorität war, Herr Abies sich schnellstmöglich um die Angelegenheit kümmern und sie selbst ihm sofort, ja selbstverständlich und unverzüglich, die Mitteilung weiterleiten würde, und dafür Sorge trage, dass die Angelegenheit umgehend und zur absoluten Zufriedenheit bearbeitet wird. Sie hatte lange, zartrosa lackierte Fingernägel und einen funkelnden Ring an der linken Hand. Die Nägel klackerten auf der Tastatur und ihre langen, getuschten Augenwimpern schauten lasziv über die kleine dünne Brille, die zart auf ihre Nasenspitze lag. Der Duft der großen Lilien und Emilias Parfüm vermischten sich und die offenen Fenstern ließen einen Geruch herein, den Viktor als Kamille erkannte, oder der vielleicht Benzin war, das wusste er nicht genau. Emilias Singsang-Stimme umwehte ihn, Viktor wurde schläfrig und fing an zu schlummern. Er wurde wach, als Emilia ihm über die Wange streichelte und sagte: „Mein süßer Spatz, du hast so tief geschlafen. Ich muss jetzt los und das Büro abschließen. Gehst du nebenan zu deinem Vater? Er kommt gleich zu dir!“
Sie gab ihm eine Praline und rauschte weg. Viktor setzte sich an seinen Tisch und schaute sich seinen Finger unter dem Mikroskop an. Sein Fingernagel war sehr dreckig und lang. Viktor erinnerte sich, dass lange und dreckige Fingernägel nicht Karate waren und Angh Park bestimmt sehr böse werden würde, wenn er Viktors Finger unter dem Mikroskop sehen würde. Also kaute er sich die Nägel ab und schrubbte sich die Finger mit Seife im kleinen Badezimmer seines Vaters. Dann schaute er sich die Fingernägel noch mal unter dem Mikroskop an. Sie sahen zwar ein bisschen besser aus, aber da war viel Hornhaut und die Nagelhaut war eingerissen. Er nahm sich vor, das nächste Mal Emilia zu fragen, wie sie so schöne Fingernägel machte.
Galina kam dann mit ihrem Putzwagen, begrüßte ihn überschwänglich, und als Viktor „Dobri Dien“ sagte, fasste sie sich an die Brust und sagte eine ganze Menge fremdländisches Zeug, was Viktor als Freude interpretierte. Sie setzte sich auf den Stuhl neben ihn und fing an zu erzählen. Viktor konzentrierte sich und beobachtete ihre Lippen, verstand aber kein einziges Wort, und als sie fertig war, nickte er heftig und sagte wieder „Dobri Dien“. Galina lachte, umarmte ihn und erzählte fröhlich, während sie die Mülleimer leerte und den Schreibtisch seines Vaters mit einem Lappen wischte. Viktor sagte „Ossu“, das einzige fremdländische Wort, das er noch kannte. Er nahm sich vor, Roccos Mutter nach weiteren fremdländischen Wörtern für Galina zu fragen.
Später saß Viktor auf seinem Bett und las im Kinderlexikon über Mikroskope und über Holland nach (was beruhigenderweise nicht in Kanada lag und auch nicht in Helsinki), nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Elstern auf der Fensterbank standen und die Bäume immer noch voller Vögel waren. Dann klopfte es. Viktor knallte das Kinderlexikon zu, warf es in die Ecke und lief zum Fenster. Er ließ Cristobal herein. Dann lief er in die Küche und holte Honig, weil Cristobal erschöpft auf dem Bett zusammenbrach und winselte, dass er vor Hunger sterben würde. Er machte sich vorsorglich noch selbst ein Marmeladenbrot, obwohl er keinen Hunger hatte, da es vorhin unten in der Atelierküche Reis mit Hackfleischsoße gab. Dann saß er mit Cristobal auf dem Bett und sie aßen. Viktor fiel etwas ein und er fragte: „Hühnchen sind Vögel, ja?“
Cristobal nickte. „Ja, sie sind Vögel.“
„Was machen sie?“, fragte Viktor.
„Hähne sind in der Infanterie. Sie sind gute Kämpfer! Und die Hühner gehören zu den Aufklärern, sie sammeln Informationen, sorgen für Infiltration mit ihren vielen Eiern und Kücken, beobachten eventuelle Alliierte und Verbündete, halten Ausschau nach Reptilien und leiten uns Informationen weiter.“
Viktor dachte nach über die vielen Hühner, die Bauer Hugo auf seinem Bauernhof hatte. Helena schickte Oded immer zum Bauernhof, um Eier zu kaufen, und manchmal durfte Viktor mit und konnte Eier sammeln.
„Darf ich Hühner essen?“, fragte Viktor.
Cristobal nahm einen Schluck Honig. „Das hat mich Jennifer Connelly auch gefragt! Sie isst gar nichts, was von Tieren kommt.“
„ Darf man Hühnchen essen?“
„Ja“, sagte
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