Beuteschema: Thriller (German Edition)
Bluffs in Iowa. Der Artikel war von 1985 und enthielt zwei Fotos. Das eine zeigte Beth Quimby, eine attraktive Frau Ende dreißig, die einen Gerichtsaal in einem ausgebeulten Gefangenenoverall verließ, das andere Beths hübschen, neunjährigen Sohn Todd, der am Tag der tödlichen Schüsse von zwei Polizeibeamten getröstet wird. Claire fragte sich, ob Todds mordende Mutter auch nur einen Gedanken daran verschwendet hatte, dass sie mit ihrer einen grandiosen Gewalttat auch ihrem Sohn jede Chance verbaut hatte, ein normales Leben zu führen.
» Ho-ho. Komm, Süße, lass mich mal drüber.«
» Bring die Kleine hier rüber, dann besorg ich es ihr mal richtig.«
Claire blickte auf und sah ein Dutzend Insassen lüstern aus ihren Zellen zu ihr herausglotzen. Sie wusste nicht, ob sie als Reaktion auf die vulgären Lockrufe beiläufig lächeln oder sich hart geben sollte. Ratten in Käfigen. Zumindest etwas, an das ich gewöhnt bin.
» Achten Sie nicht drauf«, sagte Curtin ruhig. » Von denen würde jeder seine achtzigjährige Großtante vögeln, wenn er könnte.«
Claire kam zu Bewusstsein, dass er sich in diesem Höllenloch im selben Maß zu Hause fühlte, wie es ihr fremd war.
» War es das erste Mal, dass Mr. Quimby mit dem Gesetz in Konflikt geriet?«, fragte Curtin.
Claire wusste, dass er sie nur testete; tatsächlich kannte er die Antwort bereits. Sie blätterte in der Akte und fand rasch, was sie brauchte.
» Nein. Er wurde bereits einige Male verhaftet. Besitz von Kokain, Ecstasy, Chrystal Meth. Hausfriedensbruch. Stalking. Sexueller Missbrauch dritten Grads…«
» Und was verrät uns das?«, fragte Curtin scharf.
» Ähm, scheinbar kleinere Vergehen, die ins Sexuelle hineinspielen, weisen auf einen angehenden Vergewaltiger hin«, antwortete Claire.
» Er ist ein Möchtegern-Vergewaltiger, richtig«, sagte Curtin. » Und Ihre Aufgabe ist es, zu verhindern, dass er tatsächlich einer wird.«
Sie bogen um eine Ecke und kamen an eine Tür, die mit KRANKENSTATION NORD – PSYCHIATRIEFLÜGEL beschriftet war. Curtin drückte auf die Klingel neben der Tür.
» Dr. Curtin und Dr. Waters«, sagte er und hielt seinen Ausweis in eine Überwachungskamera an der Decke. Ein Summer ertönte. Curtin zog die Tür auf und trat ein, ohne sie für Claire aufzuhalten. Zum Glück bekam sie die Tür gerade noch zu fassen, ehe sie wieder zuschnappte. Ein weiteres Beweisstück in der Sache, die sie gegen ihren neuen Mentor zusammentrug. Die Anklage: Arschloch ersten Grades mit einem eingeschlossenen minderen Vergehen von Arroganz.
Tief in ihrem Innern verstand Claire jedoch. Sie dachte an die Beleidigungen, die sie während ihrer akademischen Laufbahn zu erdulden hatte, die derben Rituale, die jeder junge Arzt ertragen musste. Es spielte keine Rolle, dass sie mit Auszeichnungen unter den Besten ihres Jahrgangs abgeschlossen hatte– sie bekam es genauso schlimm ab wie alle andern. Sie erinnerte sich an die Schwestern, die ihr versichert hatten, dass alle Ärzte im ersten praktischen Jahr die verwirrten obdachlosen Patienten zu baden hatten. Und wie sie dieselben Schwestern dann draußen vor der Tür lachen hörte, als sie in ihrer Naivität tatsächlich einen mit dem Schwamm abschrubbte.
Sie überlebte jedoch alle diese Initiationsriten und kam glatt durch ihre praktische Zeit. Als sie vorbei war, fühlte sich Claire verloren. Sie glaubte, mehr über die dunklen Tiefen der menschlichen Psyche wissen zu müssen, ehe sie die volle Verantwortung für Patienten übernahm. Deshalb beschloss sie mit dreißig, sich für eins der renommiertesten Forschungsstipendien im Land zu bewerben – dem der National Institutes of Health –, wo sie sofort genommen wurde und ihre Studien der neuronalen Grundlagen von Gewalt begann und der Frage nachging, warum Geisteskrankheit so eng mit kriminellem Verhalten verknüpft war. Sie hatte Hunderte von Patienten mit Depressionen, Psychosen, Schizophrenie behandelt, das ganze Spektrum der psychischen Störungen, und sie war überzeugt, dass chemische und strukturelle Abweichungen im Gehirn die Impulse hervorriefen, die so viele Menschen dazu treibt, Verbrechen zu begehen.
Claire Waters zog es zu den Patienten, die von den meisten Psychiatern das Etikett » nicht behandelbar« verpasst bekamen, hoffnungslose Fälle mit scheinbar irreparabler Psyche. Als sie nun an den Gefangenenzellen vorbeiging und rasch die Gesichter der Männer studierte, dachte sie: Sie sind nicht hoffnungslos. Wir stellen nur
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