Beuteschema: Thriller (German Edition)
selbstmordgefährdeten Mitgefangenen hatten. Die Folge davon waren wenig später sechs erhängte Insassen in sechs Monaten gewesen, die schlimmste Selbstmordrate aller Gefängnisse im Land.
Zu dieser Zeit war Curtin ein aufgehender Stern gewesen. Bereits als Gutachter vor Gericht gefragt, hatte er zwei Bücher über seine wegweisende Forschung in forensischer Psychiatrie geschrieben, die sich beide Hunderttausende Male verkauften. Dieser Erfolg führte zu regelmäßigen Fernsehauftritten, wenn aufsehenerregende Strafprozesse erörtert wurden. Sein natürliches Talent für Galgenhumor und seine Fähigkeit, Menschen bei so makabren Themen wie Anorexie und Nekrophilie zum Lachen zu bringen, hatte ihm einen festen Platz in den Talkshows gesichert; er war unzählige Male bei Dave, Jay und Oprah aufgetreten. In weniger als einem Jahrzehnt war Curtin als der » Dr. Oz der forensischen Psychiatrie« bekannt geworden oder, wie es seine Kritiker in der Psychiatriegemeinde lieber ausdrückten, der » Jerry Springer für Serienmörder«.
Doch selbst seine Kritiker hätten widerwillig eingeräumt, dass seine Fähigkeiten als Showstar Ergebnisse zeitigten. Er hatte zahlreiche Jurys in hinrichtungsfreudigen Bundesstaaten davon überzeugt, das Leben von Kapitalverbrechern zu schonen, deren Geisteskrankheit sie zu ihren Morden getrieben hatte. Und seine Integrität stand außer Frage. Mehr als einmal hatte irgendein Winkeladvokat versucht, Curtin dazu zu bringen, die auf vorgetäuschter Geisteskrankheit basierende Verteidigung eines Klienten zu bestätigen. Curtin hatte sich in sämtlichen Fällen nicht nur geweigert, etwas zu tun, das letzten Endes auf Meineid hinausgelaufen wäre, sondern jedes Mal außerdem angeboten, gegen den Angeklagten auszusagen, und er hatte auf diese Weise gezeigt, dass er mehr war als nur ein hoch bezahlter Söldner.
Innerhalb seines Berufsstands lagen die Gründe für Curtins guten Ruf jedoch tiefer. Er war überzeugt, verhindern zu können, dass Geisteskranke Verbrechen begingen, indem er das Problem an der Wurzel packte. Und er hatte das perfekte Labor vor der Haustür, um es zu beweisen.
Curtin betrachtete die Selbstmordrate unter den Gefangenen auf Rikers Island als moralischen Skandal, als ein Versagen des Berufsstands, den er liebte. Er wusste, die meisten Insassen des Psychiatrieflügels hatten nie ein Gewaltverbrechen verübt, und er war überzeugt, eine frühzeitige Intervention konnte verhindern, dass sie es je tun würden. Mithilfe seines Namens und seines Renommees bombardierte er Politiker und Bürokraten, bot über die Medien seine Dienste an und versicherte, dass er und seine Studenten etwas bewirken konnten. Die Stadt, die Ermittlungen durch Bundes- und Staatsbehörden zu erwarten hatte und in einer PR -Krise steckte, war schwerlich in der Position abzulehnen.
Fünf Jahre später war die Selbstmordrate in Rikers Island so niedrig wie noch nie, und die Rückfallquote unter Curtins Patienten lag bei einem Zehntel des Gefängnisdurchschnitts. Selbst die Zahl der geisteskranken Insassen sank massiv, da Curtin die maßgeblichen Kräfte davon überzeugt hatte, viele seiner Patienten unter zwei Bedingungen zu entlassen: Sie mussten ihre Psychotherapie fortsetzen und weiter ihre Medikamente nehmen. Der Plan schien zu funktionieren, und zu einem nicht geringen Teil war das den Stipendiaten zu verdanken, die Curtin für sein Projekt auswählte.
Als sie vor der Tür stehen blieben, die mit PATIENT INTERVIEW beschriftet war, wusste Claire Waters, dass nun ihre Chance gekommen war, sich Curtins Auswahl würdig zu erweisen. Dies war der Moment, den sie gefürchtet hatte und auf den sie dennoch seit fast zehn Jahren konsequent zugesteuert war. Sie fühlte sich belebt und furchtsam zugleich, und es gelang ihr, irgendwie beides unter einem dünnen Firniss der Ruhe zu verbergen. Aber sie wusste, es würde gut gehen, denn sie konnte auf ihre Gabe vertrauen: die angeborene Fähigkeit, beruhigend auf Menschen zu wirken und ihnen ihre dunkelsten Geheimnisse zu entlocken. Selbst Menschen, die sie kaum kannte, spürten ihre tiefe Empathie und öffneten sich ihr. Sie war entschlossen, Curtin zu zeigen, dass sie selbst mit den kränksten Seelen eine Verbindung herstellen konnte.
» Was Sie gleich tun werden, ist anders als alles, was Sie je als Psychiaterin getan haben«, sagte Curtin. » Dr. Fairborn und ich werden Sie beobachten.«
» Ich weiß«, sagte Claire.
» Sind Sie bereit, Doktor?«
» Ja,
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