Beuteschema: Thriller (German Edition)
gebracht hatte, leistete sie ein Praktikum und ihre Assistenzarztzeit in der Psychiatrie des Massachusetts General Hospital ab, die als eine der besten Einrichtungen im Land gilt. Von dort ging sie zu einer der angesehenen Forscherstellen an den National Institutes of Health, da sie die Gehirne von Kriminellen sezieren und untersuchen wollte.
Drei Jahre lang täglich graue Zellen zu zerlegen und Neuronen unters Mikroskop zu schieben, lieferten ihr jedoch nicht die Antworten, die sie suchte. Sie musste wieder Patienten sehen. Jetzt war sie im Begriff, die letzte Phase ihrer Ausbildung zu beginnen, ein Forschungsstipendium in forensischer Psychiatrie, bei dem sie einige der kränksten und perversesten Wesen behandeln würde, die man sich als Mensch vorstellen konnte.
Für gewöhnlich war Claire eine Meisterin darin, nicht aufzufallen. Sie trug ihr schulterlanges dunkelbraunes Haar glatt, mit einem Pony, der gerade lang genug war, um fragende grüne Augen zu verschleiern. Sie trug nie Lippenstift, Lidschatten oder Rouge– nichts, was Aufmerksamkeit auf ihre Schönheit lenken könnte. In der U-Bahn, im Starbucks oder wenn sie einfach nur die Straße entlangging, stach sie in keiner Weise hervor.
Heute jedoch war dies anders. Statt mit ihrer üblichen weichen, abgetragenen Jeans und den bequemen flachen Schuhen war sie mit einem neuen, olivgrünen Kostüm von Diane von Fürstenberg bekleidet und hatte schwarze Pumps von Louboutin an– beides Dinge, die sie sich nicht leisten konnte. Die Absätze, die aus jenen roten Sohlen, dem Markenzeichen der Schuhe, ragten, klackerten im Stakkato über den fleckigen Betonboden von Rikers Island und hallten von den schlammbraunen Betonsteinwänden wider, und jeder Schritt erinnerte sie daran, dass sie sich nirgendwo verstecken konnte. Claire war unglücklich in ihrem Wollkostüm. Was hatte sie sich dabei gedacht, als sie es kaufte? Im Juli war es in New York immer schwülwarm, und die Luft in dem schmalen Korridor, der zum Zellenblock führte, roch massiv nach Männern, die eine Dusche dringend nötig hatten.
Claire trug dieses Kostüm, um den Leiter ihres Programms zu beeindrucken, Dr. Paul Curtin, der trotz der lastenden Hitze bemerkenswert lässig aussah in seinem blauen Nadelstreifenanzug, während er neben ihr ging. Mit Mitte fünfzig war Curtin eine auffallende Erscheinung mit seinem gewellten Silberhaar und den schieferblauen Augen. Claire war überdurchschnittlich groß mit ihren eins fünfundsiebzig, doch mit seinen gut gebauten eins neunzig überragte Curtin sie ein ganzes Stück.
Er beobachtete sie auf Schritt und Tritt, was alles nur schlimmer machte, da sie vor ihrem ersten Gespräch mit einem neuen Patienten fast immer nervös war. Sie versuchte, sich auf die Fallakte zu konzentrieren, die er ihr gegeben hatte, aber ihr Haar war heute höchst lästig, es fiel ihr ständig ins Gesicht und versperrte ihr den Blick. Sie joggte in ihrer Freizeit und war fit, aber sie hatte Mühe, mit dem Mann Schritt zu halten, der es nicht versäumt hatte, ihr zu erzählen, dass er Triathlon betrieb und jedes Jahr den New York Marathon mitlief.
Ich möchte ihn mal sehen, wenn er in diesen lächerlichen Schuhen laufen und gleichzeitig lesen müsste, dachte sie.
» Er heißt Todd Quimby«, sagte Curtin. » Hat zehn Monate von einer einjährigen Strafe wegen sexueller Belästigung abgesessen.«
» Was hat er getan?«, fragte Claire und blätterte in dem Ordner. Sie wurde mit jedem Schritt nervöser, war aber fest entschlossen, es sich nicht anmerken zu lassen. Er hat mir Quimbys Akte erst wenige Augenblicke vor unserer Sitzung gegeben, weil er gleich sehen will, ob ich es draufhabe, dachte Claire.
» Er hat vor einer Gruppe von Sekretärinnen die Hosen runtergelassen.«
» In ihrem Büro?«
» In einem Restaurant. Sie hatten gerade einen Teller Mozzarella-Sticks bestellt, als Quimby seinen eigenen servierte.«
» Das ist Erregung öffentlichen Ärgernisses, nicht sexuelle Belästigung«, sagte Claire.
» Mr. Quimby hat die Grenze überschritten, als eine der Damen auf die bescheidene Größe seiner › Portion‹ hinwies, und er sie zwingen wollte, sie zu essen.«
Claire rang sich ein Lächeln über sein Bemühen um Humor ab, während ein Wächter die Sicherheitstür aufschloss und sie in den Zellenblock einließ. Claire wandte sich den alten Zeitungsausschnitten in der Akte zu. JAHRMARKT - MÖRDERIN BEKOMMT LEBENSLÄNGLICH lautete die Schlagzeile des Daily Nonpareil aus Council
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