Beutewelt 04 - Die Gegenrevolution
sein Gesicht nach Falten ab. Einige verwachsene Schrammen und Kratzer liefen seine Backe hinunter und thronten auf seiner Stirn. Man sah sie allerdings meist erst auf den zweiten Blick. Kleine Schatten hatten sich unter seinen grünen Augen gebildet. Waren sie schon länger da? Er rätselte vor sich hin und kam zu keinem Ergebnis.
„Vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein“, dachte er sich und starrte weiter in den Spiegel.
Kohlhaas war jetzt 36 Jahre alt. Verdammt alt oder zumindest nicht mehr jung, wie er meinte. General der Volksarmee der Rus war er geworden, zum Anführer der besten Einheit der kleinen, weißrussischen Armee hatte er es gebracht. Er war ein großer Krieger, vielleicht auch ein talentierter Schlächter. Viele Feinde waren durch seine Schüsse und Hiebe gefallen. Dafür verehrte man ihn.
Dumm war er ebenfalls nicht. Sein Verstand war scharf und strategisch. Die ihm ergebenen Waräger schätzen seine Kraft, seinen eisernen Willen und seinen großen Mut. Frank schätzte sich selbst jedoch häufig nicht.
„Ich hangele mich von Kampf zu Kampf. Das ist mein Schicksal. Irgendwann bin ich ein alter Mann, wenn sie mich nicht vorher töten, und werde nichts haben, außer einem Berg von Orden“, sinnierte er in den stillen Stunden.
Er sah vor seinem geistigen Auge kleine Jungen, die irgendwann vor seinem Haus stehen und sagen würden: „Da wohnt der alte Herr Kohlhaas! Er war früher ein großer Kämpfer. Er war wie Achilles, wie Siegfried, wie Leonidas! Ach, wären wir doch wie er!“
Doch seine eigenen Kinder würden es nicht sein. Nein, fremde Kinder. Eigene Kinder würde er niemals haben, wenn er weiter mit Scheuklappen vor den Augen von Kampf zu Kampf zog. Was würde sein, wenn doch alles umsonst war? Wenn ihre Rebellion scheitern und sie im Nichts der Geschichte verschwinden würden?
Er wurde zunehmend unzufriedener, trauriger und lustloser. Artur Tschistokjow sollte ihn bald wieder rufen. Heute jedoch wollte er mit Alfred Bäumer in die Stadt gehen, die Kneipen durchstreifen und abends in einen Schuppen gehen, wo sie manchmal „New Iron Metal“, Franks harte Lieblingsmusik, spielten. Heute wollte der General trinken, feiern und vergessen.
Bis um fünf Uhr morgens zogen die beiden durch die Straßen von Minsk. Bäumer hatte mit einer hübschen Russin geflirtet, Frank derweil wieder an Julia gedacht. Einige junge Russen waren ehrfürchtig an ihren Tisch gekommen und hatten gefragt, ob er „General Gollchaas“ sei. Er hatte genickt und schmunzeln müssen.
Plötzlich war der Besitzer des Ladens höchstpersönlich zu ihnen gekommen und hatte ihnen lachend die Hände geschüttelt. Er ließ sie umsonst trinken und fühlte sich durch ihren Besuch geehrt.
„Ich bin auch bei den Rus, Herr Gollchaas!“, hatte er bemerkt. „Wir sind stolz, dass Sie heute hier bei uns sind!“
Frank und Alfred hatten sich angesehen und gegrinst. So war es nun einmal. Offenbar bedeutete er vielen Menschen etwas. Zwar löste das seine inneren Probleme nicht, aber es war trotzdem ein Grund zur Freude.
Verkatert wachten die beiden Freiheitskämpfer am nächsten Tag auf und machten sich in den Abendstunden für die Fahrt zur Kaserne am Stadtrand fertig. Hier warteten bereits die Waräger auf sie.
Es ging nach Norden. Die motorisierte Truppe sollte in die ländliche Gegend östlich von Nowgorod vorstoßen. Mit wehenden Drachenkopffahnen fuhren die Lastwagen durch die Dörfer und Ortschaften, um Präsenz zu zeigen. Wie stark waren die Kollektivisten hier? Sie wussten es nicht und ihre tagelange Fahrt diente vor allem dazu, das Gebiet auszuspähen.
Es kam in den teilweise winzigen Siedlungen zu keinen nennenswerten Zwischenfällen. Insgesamt reagierte die Landbevölkerung aber positiv auf ihr Erscheinen und häufig verteilten die Waräger Datendisks und Flugblätter mit Titeln wie „Was will Artur Tschistokjow?“ oder „Uljanin führt Russland in den Untergang!“ an die Einwohner der vielen, kleinen Ortschaften.
Die Fahrt nach Osten brachte Frank in trostlose, verarmte Gebiete. Hier fanden sie manchmal zerfallene und schon halb aufgegebene Dörfchen vor. Abgemagerte und traurige Gestalten schauten ihnen aus den Fenstern der heruntergekommenen Häuser nach. Alte Mütterchen hinkten über regennasse, schlammige Dorfstraßen und würdigten sie oft nur eines flüchtigen Blickes, um dann lethargisch fortzugehen. Fuhr man noch weiter, so kam man in wildes Land. Wiesen, Wälder und sonst nur kleine
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