Bevor Alles Verschwindet
auf die Uhr, eine halbe Stunde haben sie eigentlich noch, aber auf die kommt es jetzt auch nicht mehr an.
»Du gehst dann aber direkt nach Hause. Keine Umwege, kein Besuch bei der Staumauer.« Marie nickt.
»Versprochen.«
»Na dann«, sagt die Kindergärtnerin. Zu ihrer Verwunderung kommt Marie zu ihr, legt den Schädel beiseite und umarmt sie fest.
»Auf Wiedersehen«, sagt Marie.
»Mach es gut, Mariechen.«
»Das werde ich«, sagt Marie entschlossen. Und besorgt:
»Was machen Sie jetzt ohne mich?« Die Kindergärtnerin denkt nach.
»Das weiß ich noch nicht. Erst mal Urlaub.«
»Gut«, sagt Marie, nimmt den Schädel und geht. Die Kindergärtnerin sieht ihr hinterher, wie sie all ihren Schützlingen hinterhergesehen hat. Sie geht nicht mit in den neuen Ort, sie kommt ohnehin nicht von hier, sie zieht endlich zu ihrem Freund ans andere Ende des Landes. Die Kindergärtnerin stellt die Stühle zusammen, nimmt die Bilder ab, Maries blauen Fuchs behält sie, Pauls Kaninchen, Mias Baumhausbild und Leons Phoenix aus der Asche. Dann schließt sie die Tür hinter sich, sie kann kaum glauben, wie einfach das war.
Wie ein Ort so still werden kann, trotz Baulärm und obwohl noch einige Bewohner da sind; wie man das Gefühl bekommen kann, ganz allein zu sein auf der Welt. Ab und zu packt Clara die Lust, sie will ganz laut schreien, sich in den Arm kneifen, etwas einschlagen und dafür sollen sie ihr eine Rechnung schicken, einen offiziellen Brief mit ihrem Namen darauf. Sie sollen ihr bestätigen, dass es sie noch gibt. Jeden Morgen geht sie in die Praxis, obwohl sie schon vor Wochen verkündet hat, niemanden mehr zu empfangen. Neulich war Greta da, sie hat Clara gebeten, sich David anzusehen und diesen Milo am besten auch, der sitzt da nur auf der Treppe vor dem Rathaus und tut nichts, und Wacho soll Clara sich auch einmal vorknöpfen, der ist ständig betrunken, und zwischendurch hat Greta sich nach Schlaftabletten erkundigt, nach Schleudertrauma und Querschnittslähmung. Clara hat versprochen, sich David anzusehen, mit Milo zu sprechen, wenn sie ihn mal sieht, sie sieht ihn nie, sie weiß nicht, was oder wen die anderen meinen, und sie hat ihr klipp und klar gesagt, dass die Gefahr sehr groß ist, nach einem Motorradunfall gelähmt zu sein und nicht tot.
Greta hat sich höflich bedankt, auf ihre alten Tage geht sie
plötzlich wie ein junges Mädchen. Robert hat Clara erzählt, er habe sie neulich beim Hüpfen beobachtet. »Greta springt wieder in Pfützen«, hat Robert gesagt. »Und wir beide trotten herum, als hätte man uns die Zukunft entfernt.« Niemand hat Clara die Zukunft entfernt, die Zukunft liegt leuchtender vor ihr denn je. Sie könnte alles tun, was sie will, hingehen, wo sie möchte. Er kann nicht mehr sagen, dass sie ja das Haus haben und investiert in die Renovierung, kurz vor Maries Geburt. Er kann sie nicht mehr davon abhalten, sich andere Leben vorzustellen. Robert tut schließlich selbst nichts anderes, als tagtäglich jemand anders zu sein, als sich in fremden Leben zu verstecken und zu behaupten, es nicht gewesen zu sein, dass das einer seiner Rollen zuzuschreiben ist. Während sie einem Gelbhelm eine Spritze verpasst, überlegt Clara, wer sie gern sein will. Ihr fällt nichts ein, seit Tagen denkt sie darüber nach und sie hat immer noch keine Idee. Vermutlich war das einer der Gründe, weshalb sie den Beruf ihrer Eltern übernommen hat und noch dazu deren Praxis. Wahrscheinlich wird sie einfach weitermachen. Sie wird telefonieren in den nächsten Tagen, sie wird dafür auf die kleine Anhöhe steigen, wo man noch Empfang hat, sie wird ihr Telefon auf laut stellen, es hoch in die Luft halten und gen Himmel brüllen: »Ich bin Ärztin.«
»Entschuldigung«, fragt der Gelbhelm vorsichtig. »Könnten Sie bitte hingucken, wenn Sie das machen?« Clara entschuldigt sich nicht für ihre Unaufmerksamkeit, es ist das werweißwievielte Mal, dass sie einen der Gelbhelme spritzen muss, weil ihn angeblich dieser Fuchs gebissen hat, »dieses merkwürdige Tier«, wie er es nannte, das so harmlos wirkt und zutraulich ist und dann plötzlich zubeißt. Niemand hat die Vorfälle gemeldet.
Er stellt keinen Stuhl unter die Klinke, schiebt keinen Schreibtisch mehr vor. Davids Selbsterhaltungstrieb ist in einer der
Minuten versickert, die er allein war. Seit Milo auf der Treppe sitzt und sich nicht rührt, seit David sich nicht mehr zu ihm wagt, ist die Einsamkeit zurück. Da hilft auch Greta nicht, nicht
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