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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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Metallkisten. Sie sind sorgsam beschriftet: Ägypten , Tibet , Marokko , Grönland , Peru und Indien . David streicht mit dem Zeigefinger über die Schilder, er kommt sich vor wie ein Archäologe, denkt an das Gefühl, ganz woanders einen Koffer auszupacken. Er erinnert sich daran, wie sie einmal Urlaub in Schweden gemacht haben, damals waren sie noch zu dritt. Er hat große Lust, einen Blick in die Tibet-Kiste zu werfen, ihn interessiert auch Peru. Er könnte reisen, und kellnern kann er überall, das ist kein Grund, in dieser Gegend auszuharren, und das Tore ist ohnehin nicht mehr da.
    David vermutet in den Kisten Geheimnisse, nie hat er Jeremias und Eleni von ihren Reisen sprechen hören. Er hatte gedacht, sie seien immer schon da gewesen, dass es anscheinend nicht so ist, macht ihn glücklich. David überlegt, ob Jeremias vielleicht gar nicht im neuen Haus ist, wie Wacho sagt. Vielleicht ist er längt auf den Osterinseln, auf Feuerland oder in der Antarktis. Vielleicht bereiten die Salamanders heimlich ihre Flucht vor in die weite Welt, in einen ganz anderen Film. David stellt sich vor, wie es wäre, einer von den Salamanders zu sein, und hebt probeweise die Ägypten-Kiste an, in der lagert ein ganzer Tempel. Jeremias war mal Entdecker, ganz bestimmt.
    David spürt jeden Muskel, er hält die Kiste eine Weile in der Luft, so lange, bis seine Oberarme zu zittern beginnen. Er könnte hilfreich sein für die Salamanders, er ist immer noch stark. Was passiert, wenn man alles hinter sich lässt, so tut, als wäre da nichts im Rücken, wenn man nur an sich selbst denkt und geht? Warum hat er seine Mutter nie gefragt, was sie gesucht hat mit ihrem Blick? David baut sich aus Ägypten und Peru und aus Marokko ein Bett. Er vergisst den Umzug, er vergisst alles, auch die kurze Zeit, die dem Haus noch bleibt.
David ist unheimlich müde geworden, inmitten all dieser eingelagerten Träume. Sollen sie da draußen machen, was sie wollen, soll Wacho das Rathaus selbst abreißen, mit seiner unbestimmten Wut. David hält ab sofort keine Wände mehr fest. Soll das Wasser doch kommen und Touristen anspülen, mag der Himmel einstürzen über allem und jedem, soll er doch. David will jetzt schlafen.
    Sein Bein schmerzt, sein Arm, sein Kopf und sein Rücken. Er hätte früher anfangen sollen sich zu wehren, jetzt ist es zu spät und unfair, weil Wacho anscheinend denkt, für David ist es in Ordnung, was er mit ihm macht. Sie werden ihn hier nicht finden, Eleni ist zu sehr mit dem Umzug beschäftigt, und die Sachen im Keller würde sie ohnehin am liebsten vergessen, dabei hilft er ihr jetzt. Und Milo, der wird ihn nicht suchen, der sitzt sowieso immer nur mit dem Löwen auf der Treppe. Wacho wird wütend sein, wenn David nicht auftaucht, und wenn er ihn dann nicht vor sich hat, wird er nicht wissen, wohin mit der Wut. Irgendwann wird er sich doch in den Rathauskeller wagen, in den er sonst David hinunterschickt. David weiß: Wacho fürchtet sich vor dem Bild, das dort immer schon hängt. Wacho wird versuchen, es nicht anzusehen, wenn er zum Weinregal geht. Er wird sich deswegen vielleicht an dem großen Tisch stoßen, er wird sich beeilen. Auf dem Rückweg wird sein Blick dann doch auf das Bild fallen, Wacho wird eine Gänsehaut bekommen und noch mehr Wut. David hat sich mehrfach geweigert, das Bild verschwinden zu lassen, David mag den Menschen darauf, er sieht wie jemand aus, den er gern kennen würde. Vielleicht wird Wacho das Bild dem See überlassen. Auf jeden Fall wird er zwei, drei Flaschen mehr trinken als sonst, wenn er versteht, dass David nicht mehr da ist.
    »Geh bitte hinter das Absperrband«, sagt der Gelbhelm, und Marie gehorcht, einen Stein möchte sie nicht auf dem Kopf haben, sie hat noch viel vor.
    »Komm zu mir«, sagt der Reporter, »du kannst mir erzählen, was du siehst, und ich schreibe es dann auf.«
    »Sie sehen das doch selbst«, sagt Marie.
    »Aber vielleicht siehst du das anders als ich.«
    »Ganz bestimmt«, sagt Marie, »aber das erzähle ich Ihnen doch nicht.«
    »Ihre Tochter«, sagt der Reporter, und Robert nickt zerstreut, er ist ganz gebannt von dem Großschauspiel, das die Verantwortlichen inszenieren, dagegen kommt er nicht an. Allein der Aufmarsch der Gelbhelme, die Choreographie der Blicke und routinierten Handgriffe, das unheilverkündende Heranrollen der Bagger, der Mann mit der Steuerkonsole, darauf, tatsächlich, nur ein einzelner Knopf und der ist auch noch rot. Dass das tatsächlich alles so

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