Bevor Alles Verschwindet
Eleni. »Und warum?«
»Darum.«
»War denn heute schon Post da?«, fragt Eleni. Jeremias stöhnt.
»Sag mal, was soll das eigentlich immer mit der Post? Du wirkst richtig besessen. Sollte ich irgendetwas wissen?« Eleni schweigt.
»Nicht für uns. Für uns war nichts dabei«, sagt Jules schnell und mit schlechtem Gewissen. Eleni lässt nicht locker, trotz Jeremias' fragendem Blick.
»Und wer bringt uns die Post, wenn du weg bist?«
»Jemand anders. Ist ja nicht mehr lange.«
»Und wo ist deine Schwester?«
»Könnt ihr mal damit aufhören, ständig nach Jula zu fragen? Ich hab keine Ahnung, was sie macht. Fragt sie doch selbst!«
»Ist ja gut, Jules, ist ja gut«, sagt Jeremias. Er und Eleni werfen sich verschwörerische Elternblicke zu, wäre noch alles so wie vor ungefähr einem Jahr, dann wäre jetzt eine Familienkonferenz fällig.
»Kann es sein, dass Jula jemanden kennengelernt hat?«, fragt Eleni. Jules klappt wortlos seinen Toast zusammen, stopft ihn sich in die Hosentasche und geht.
»Warum musst du immer fragen?«
»Weil ich ein Interesse daran habe, dass hier noch irgendwas funktioniert, darum«, sagt Eleni.
»Das wird sich schon alles wieder beruhigen, wenn wir erst mal drüben sind und die Kinder sich eingelebt haben. Das hier ist alles viel zu chaotisch. Und überhaupt, wollte Jules nicht eigentlich seinen Abschluss nachholen? Das muss doch längst angefangen haben?« Eleni überlegt, sieht aus dem Fenster, dann auf den Kalender. Laut Kalender haben sie seit vier Monaten Januar.
»Irgendwann hat er gesagt, er will nicht weitermachen.«
»Hat er das? Wir sollten uns wieder mehr wie Eltern verhalten, meinst du nicht?«, fragt Jeremias.
»Das wäre gut. Nimmst du ihn wirklich mit?«
»Wenn er noch will.«
»Aber dann müsst ihr ab und zu hier vorbeikommen.«
»Wenn es passt«, sagt Jeremias. »Oder ihr kommt hoch zu uns.«
»Nicht, bevor es nicht mehr anders geht.«
»Meinst du, du wirst mit Jula fertig?«
»Warum sollte ich nicht?«
»Ist es in Ordnung, wenn ich dich allein zu Ende frühstücken lasse? Ich will schon mal die Sachen ins Auto räumen. Um zwölf kommen die Installateure.«
»Klar«, sagt Eleni.
»Deine Blutorange ist im Kühlschrank«, ruft Jeremias im Weggehen. »Wir haben sie schon aufgeschnitten, weil wir nicht wussten, wann du kommst.«
»Danke.«
»Bitte.«
Jules wollte noch einmal irgendwohin, irgendwas noch mal angucken, aber jetzt weiß er plötzlich nicht mehr was. Jules hat keine Ahnung, wovon er sich verabschieden soll. Von Jula, na klar, aber die wird er wiedersehen, später, oben im neuen Haus. Was ist ihm wichtig von dem, was hierbleibt, wovon nimmt er Abschied für immer? Sein altes Baumhaus, aber der Baum ist längst weg, genau wie die alte Treppe, die ins Nirgendwo führt und an der er mit Jula früher gespielt hat, Sternfahrer und Königskinder. Was hat das jetzt noch mit ihm zu tun? Warum hat er sich eigentlich die ganze Zeit so aufgeregt? Was ist so schlimm an einem neuen Haus, an einer funktionierenden Klospülung, an Wasserdruck aus dem Duschhahn? Wie können sie sich ernsthaft darüber aufregen, dass man an die Außenwelt angeschlossen wird und eine Chance bekommt, sich unauffällig aus dem Staub zu machen? Vielleicht ist die Angst ansteckend, die Panik, die Trauer. Jules ist kurz davor, zu seiner Schwester zu laufen, ihr die frohe Botschaft zu verkünden: Wir brauchen uns nicht zu fürchten, uns betrifft das alles nicht! Was ist das eigentlich mit dem Plan? Warum sollten sie für diesen Blödsinn, diese winzige Zäsur in ihrem aalglatten Leben alles aufs Spiel setzen? Jules lacht laut auf. Er weiß ja noch nicht einmal, wovon er sich verabschieden soll!
»Jula«, ruft Jules. »Jula, alles ist gut!« An ihrem Fenster rührt sich nichts. Die Gardinen sind immer noch zugezogen, neben Jules räumt sein Vater das Auto ein, tut so, als sähe er Jules nicht. Aber er muss ihn doch hören. Jules kann brüllen wie sonst nur Wacho.
»Was soll das alles!«, brüllt Jules. »Was spielt ihr hier für einen Scheiß? Regt euch doch ab, das sind nur Häuser und ein paar Wege! Wir sind ja noch da, uns gibt es auch anderswo.« Endlich bewegt sich die Gardine, Jula ist da, und Jules lacht. Jula tippt sich an die Stirn und dreht sich weg.
»Scheiße!«, brüllt Jules. »So ein Scheiß! Ich verstehe das nicht, dieses Kasperletheater. So ein Müll, so ein Dreck!« Jules entdeckt diesen Milo, wie immer sitzt er auf der bescheuerten weißen Treppe, der hockt da
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