Bevor Alles Verschwindet
der steinerne Löwe, der sich trotz fehlendem Kopf seit neustem nachts erhebt und um die Trümmer der Häuser streift. Da hilft es nicht, dass Wacho nach seinen Ausbrüchen wimmert, es ihm leidtut und dass David jedes Mal beteuert: Es macht nichts.
Er und sein Vater sind übrig wie zuvor, und so wie sein Vater Davids Mutter nie gefragt hat, was eigentlich los ist, warum sie da so sitzt, mit diesem Blick in die Ferne, genauso wenig spricht David Milo darauf an. Manchmal stellt David sich ans Fenster, folgt Milos Blick in vager Richtung ihres Hauses, das mittlerweile schon fast vollständig auf dem Transporter steht. Der schlafende Löwe dort fehlt noch, nur der Löwe, aber der krallt sich in den Boden, der wehrt sich selbst im Schlaf noch gegen das Mitgenommenwerden, so dass sie mittlerweile darüber nachdenken, ihn mit den Fundamenten der Häuser untergehen zu lassen. David hat mal einen Bericht über Schwertransporte im Fernsehen gesehen und darüber, wie man Dinge transportiert, die man eigentlich nicht transportieren sollte, es aber aus verschiedensten Gründen doch tut. David war nicht sonderlich beeindruckt von diesen Bildern, er weiß, nichts ist unmöglich. Außer Milo wieder zu sich zurückzuholen, außer Milo zu bewegen, ist alles möglich. Vielleicht könnte er sogar seinen Vater vom Saufen abbringen, vom Schlagen. Aber wozu? Sie haben sich gewöhnt.
»Wann kommt sie?«, brüllt Wacho, und David sagt jedes Mal leise: »Ich weiß es nicht.« Für Greta tut es David leid, für sie ist es nicht einfach in diesem Chaos, aber ändern kann er daran nichts. Es ist, wie es ist, und heute lassen sie tatsächlich das Haus Salamander in sich zusammenstürzen.
Die Zukunft liegt in Marie, so viel ist klar, nur wie sie aussehen soll, muss Marie noch entscheiden. Sie hält ihr Versprechen und geht vom Kindergarten aus sofort nach Hause, hofft aber, dass das Haus nicht mehr steht und sie nicht reingehen muss. Dann könnte sie schnell wieder los, Geheimnisse entdecken und Abenteuer erleben, sie muss zum Beispiel unbedingt noch in der Praxis vorbei, sehen, ob noch wer gebissen wurde. Doch das Haus steht noch und ihr Vater ist da, er rührt Spaghetti in die Soße vom Vortag.
»Du bist schon hier?«, sagt Robert. »Das passt gut.«
»Ich muss gleich wieder los«, sagt Marie, und Robert nickt.
»Hättest du denn trotzdem noch Zeit, dir gleich eine Probe anzusehen?«
»Heute Abend, nach acht«, sagt Marie und beginnt, den Tisch zu decken. »Kommt Mama zum Essen?«
»Deck mal für sie mit. Und für die Leute vom Fernsehen.«
»Wie viele?«
»Kamera, Ton und Reporter.«
»Drei«, sagt Marie. »So viel Geschirr ist nicht mehr da.«
»Vielleicht kommt Mama nicht zum Essen.«
»Vielleicht«, sagt Marie. »Vielleicht habe ich auch keinen Hunger.«
»Nichts da, du isst«, sagt Robert.
»Was machen die heute?«, fragt Marie.
»Ein Interview. Nachher filmen sie dann die Probe.«
»Die Erdbebenszene?«
»Schlaues Kind.« Marie lächelt zufrieden, deckt für sich, für Robert, für die Leute vom Fernsehen. Wenn Mama doch kommt, dann kann sie Maries Teller haben. Oder den vom Schädel. Es klingelt, die Fernsehleute sind da. Marie kennt bisher nur den Reporter. Der hat ihr ein Dinosaurierskelett zum Zusammenstecken mitgebracht. Da hat er was falsch verstanden, aber Marie weiß, es ist nett gemeint und ein Zeichen der Aufmerksamkeit.
»Hier riecht es gut«, sagt der Mann mit der Kamera.
»Spaghetti«, sagt Robert und tischt auf. Jeder bekommt einen Löffel voll, Marie zwei, dabei hat sie wirklich keinen Hunger. »Du musst noch wachsen«, sagt Robert und lächelt das Fernsehteam an.
»Muss ich?«, fragt Marie.
»Und wie«, sagt der Tonmann. »Spielst du auch Theater?«
»Nicht mit vollem Mund«, sagt der Reporter und sinkt in Maries Wertschätzung unter null.
»Nein«, sagt Marie. »Ich spiele noch echt.« Die Erwachsenen lachen, als hätte Marie einen Witz gemacht. Robert erzählt dem Fernsehteam, dass heute wieder ein Haus abgerissen wird, Familie Salamander, drei Personen sind noch da.
»Jula, Jules und Eleni«, sagt Marie, ihr verbietet niemand, mit vollem Mund zu sprechen. Die Erwachsenen wollen ihr gefallen, darum geht es also. Marie mag Erwachsene, für die meisten hat sie großes Verständnis.
»Meinst du, wir könnten da Aufnahmen machen?«, fragt der Reporter Robert. Maries Vater und das Team duzen sich, das gibt ihm ein gutes Gefühl, als wenn er in einer Projektgruppe wäre. Robert sagt das in letzter
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