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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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drückt Marie einen Kuss aufs Haar. Das Team hat diese Geste im Bild. Clara merkt das nicht, aber Robert.
    »Ich weiß nicht«, sagt er. »Ich weiß nicht, ob ich das alles so gut finde.« Der Tonmann hält Robert das Mikro über den Kopf.
    »Was empfindest du?«, fragt der Reporter erwartungsvoll. Robert weiß nicht, was er empfindet, auf jeden Fall nichts, was er für das Team in Worte fassen kann oder will.
    »Ich war als Kind oft hier«, sagt hinter ihm einer der Angereisten. Die Tonangel schwingt von Robert zu dem Betroffenen.
    »Erzählen Sie, wie war das und wie ist das heute für Sie?« Der Angereiste kann gut erzählen. Es ist eine schöne Geschichte, vom Sommer, von Eis, von einem aufgeschürften Knie, einer ersten Liebe: »Das war mal der Eisladen. Da gab es noch richtige, selbstgemachte Eiscreme.« Er lässt sich beim Erzählen durch nichts aus der Ruhe bringen, nicht durch Gretas Kopfschütteln, nicht einmal durch Wachos Gebrüll: »Wo ist er? Wo ist David?«
    Eleni lässt die Zwillinge stehen, drängt sich zu Wacho durch, der schüttelt einen Unbekannten.
    »Du musst dich beruhigen, Martin.«
    »Er sollte zu dir kommen. Ich habe ihn rausgelassen, damit er zu dir geht und euch sagt, dass ihr jederzeit zu uns ins Rathaus kommen könnt.«
    »Danke«, sagt Eleni. »Das machen wir dann. David war da, er wollte mir helfen, dann war er weg. Ich hab ihn nicht mehr gesehen, seit mindestens einer Stunde.«
    »Er ist weg!«, brüllt Wacho.
    »Ruhig«, sagt Robert, »ganz ruhig. David geht nicht einfach, das weißt du.«
    »Vielleicht weiß der was«, sagt Jules und zeigt auf Milo, der, was auch sonst, stumm auf der Treppe sitzt.
    »Nicht der, der nicht!«, brüllt Wacho und weicht ein paar Schritte zurück.
    »Vielleicht ist David noch da drinnen«, sagt Eleni ganz leise.
    »Was?«, brüllen Wacho und Robert.
    »Vielleicht hat er nicht mitbekommen, wie alle rausgerufen wurden.«
    »Die machen doch einen Kontrollgang«, sagt Robert.
    »Ich meine ja nur«, sagt Eleni.
    »Halt!«, brüllt Wacho, brüllt Robert, brüllt Eleni, brüllt Clara, brüllt Greta, brüllen Jula und Jules, der Tonmann und Marie. Es ist das erste Mal, dass sie laut werden, und sogar Milo öffnet den Mund, doch sein Brüllen bleibt stumm.
    Wacho zögert an der Kellertreppe, aber die Gelbhelme hinter ihm haben es eilig, einer schiebt ihn an und Wacho tastet sich die dunkle Treppe hinab. Die Gelbhelmlampen tauchen den Raum in ein unwirkliches Licht. Wacho kann David nicht rufen, seine Stimme ist weg und jede Zuversicht. Die Gelbhelme wühlen die Schätze der Familie Salamander durch, spähen in Kisten, unter Tische und in den Schrank. Sie suchen an Stellen, an denen sich nur ein Kind verstecken könnte, nicht David, und trotzdem finden sie ihn.
    »Da ist er«, ruft einer der Gelben, und Wacho stößt ihn beiseite und stürzt auf das zu, was aussieht wie ein Stapel alter Klamotten. David schläft zusammengerollt, schläft so tief, dass sie zuerst denken, er wäre tot. Aber Wacho weiß, was man tun muss. Er greift David, zieht ihn hoch, schüttelt ihn, schlägt ihm mit der flachen Hand fest ins Gesicht, ballt die Faust und zielt in Richtung Magengrube. Einer der Gelbhelme legt Wacho die Hand auf den Arm, sagt:
    »Beruhigen Sie sich.« Ein anderer ruft:
    »Nanana!« Wacho kümmert sich nicht. David atmet schwer, benommen sieht er sich um, erschrickt, als ihm klarwird, dass Wacho ihn gefunden hat, dass er sich nicht so einfach davonstehlen kann.
    »Wir sprechen uns noch«, zischt Wacho, aber erst mal spricht er nicht mehr, erst mal muss er David sicherstellen. Gefolgt von den überforderten Gelbhelmen zerrt Wacho David die Kellertreppe hinauf, hinaus aus der Gefahrenzone.
    Das Team ist begeistert von dieser Szene, im Schnitt wird zu überlegen sein, ob sie davon handeln wird, wie der Sohn des Bürgermeisters in letzter Sekunde aus dem zu sprengenden Haus geführt wird, oder ob sie zeigt, wie die verbliebenen Bewohner in einem letzten vergeblichen Klageschrei gegen die Zerstörung der geliebten Mehrgenerationenhäuser anbrüllen, in denen ohnehin nur noch Generationsrudimente leben.
    »Directors Cut, wir machen beides«, sagt der Reporter zufrieden. »Hast du die Bilder?« Der Kameramann nickt. Sie wollen aufmerksam machen auf diesen Ort, die Schicksale, sie suhlen sich nicht, sie beobachten nur. Irgendjemand muss hinsehen, berichten. Wo käme man denn hin, wenn am Ende nur die Schaulustigen starrten. Der Reporter und der Rest des Teams fühlen sich

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