Bevor Alles Verschwindet
wurde heller, bis es so blond war wie einst das seiner Mutter.
Wacho wurde einsam und misstrauisch, kantig und zornig. Er hätte sich denken können, dass auch der Junge so werden würde, wie hätte er sie auch verhindern können, diese Sehnsucht nach etwas, was er nicht bieten konnte? Jeden Tag
konnte es passieren, konnte David jemanden oder etwas entdecken und einfach für immer verschwinden. Doch so leicht würde Wacho seinen Sohn nicht verloren geben. Welten konnten untergehen, aber Davids Verschwinden, das durfte nicht sein.
Wacho las Ratgeber, und vor kurzem sprach er heimlich mit dem Wirt, Davids Chef. Der kann ihm nicht viel sagen, nur dass der Junge gut anpackt und dass das alles ist, was ihn interessiert. David erledigt seine Aufgaben freundlich, aber weitgehend stumm, und Wacho beobachtet ihn, während er seinen Punsch trinkt an der Theke. Er sieht, wie David Tabletts balanciert, wie er den Block nicht braucht, um die letzten Stammgäste zu bedienen, wie er die Tische abwischt zum Feierabend und nach jedem Wisch mit dem grauen Lappen mit der Handkante einmal nachstreicht, über das alte Eichenholz, sanft und fast liebevoll, so sieht ihn Wacho nur hier. Wacho beobachtet, wie David stärker wird, wie er Blicke auf sich zieht, ohne es zu merken, wie David, während er im Herzen des Ortes seine Arbeit macht, in seiner eigenen Welt versinkt.
Wacho ist Bürgermeister geworden, um Zugang zu haben, um die Fäden in der Hand zu halten. Er ist ein guter Vater, das bestätigen ihm alle, die er fragt. Und dass er nichts dafür kann, dass David so verschlossen ist und nur steht und wartet und so wenig sagt und anscheinend so wenig von dem will, was hier möglich wäre. Vielleicht kann Wacho etwas dafür, dass David bald die weiße Rathaustreppe wird putzen müssen, so will es der Brauch, weil sich immer noch kein Mädchen zu ihnen nach Hause traut, dass David noch nicht verlobt, nicht verheiratet ist und vielleicht nicht einmal geküsst. Wacho nimmt das in Kauf, er muss die Familie bewahren, mit allen Mitteln, auch wenn es wehtut. David darf es nicht wagen, ihn zu verlassen.
Mit diesen Gedanken im Kopf steigt Wacho die weiße Treppe hinauf, ohne sich am Geländer festzuhalten. Das braucht er
nicht, er fühlt sich fast nüchtern. Oben dreht er sich, den gezückten Schlüssel in der Hand, noch einmal um. Der Blick über den Hauptplatz beruhigt ihn, alles hat dort seine Ordnung, alles ist hier wie immer. Nur der sicherste Moment ist verloren. »Verdammte Scheiße, Anna«, murmelt Wacho und schließt die Tür hinter sich ab. Die Welt ist gefährlich geworden, und Wacho will nicht noch mehr verlieren.
Etwas, das nach Sehnsucht klingt, eine Ahnung vom Verlust geistert über die Dächer, über den Hauptplatz hinweg, einmal rundherum um die kahle Linde, am Brunnen vorbei, ohne aus dem Takt zu kommen, und dann die glänzende Straße entlang, durch das kleine Waldstück, hinein in das zerbrochene Fenster eines vergessenen Hauses und hinaus durch ein zweites, weiter in Richtung Friedhof, dort an der Nebenkapelle vorbei, den Turm hinauf und dann am Kirchkreuz entlang, und aus den Gräbern stammt es nicht, was sich da ausbreitet und hochzieht und drüberlegt, über alles. Aber dennoch: Da ist etwas gefährlich geworden. Da türmt sich eine scheinheilige Ruhe über dem Ort auf, da funkeln Sterne ihr trügerisches Alles-gut auf die Welt, gemeinsam mit dem Hauptplatz lügen sie, da interessiert sich der Mond offensichtlich für nichts hier unten, in weiter Ferne liegt alles für ihn, und warum sollte er sich um die Ferne kümmern? Da liegt der Ort im Tal wie in einer Hängematte und träumt, weil seine Bewohner sich vieles wünschen. Nur nicht das, was kommt, nur das nicht.
Eine halbe Stunde nachdem er sich ins Haus gekämpft hat, eilt Wacho die Holztreppe hinauf in den ersten Stock. David könnte schon verschwunden sein, vielleicht hat er etwas mitbekommen, die Männer in ihrem offiziellen Aufzug richtig gedeutet, das goldene Emblem als das des landverschlingenden Wassergottes verstanden, vielleicht hat David das einfach
im Gefühl, und: Mit wem hat David vorhin gesprochen, als er seinen Vater stehen ließ, allein auf der Treppe, vor all den Menschen? Wacho stolpert mit einem mit siebenundzwanzig Kerzen gespickten Kuchen die letzten Meter bis zu Davids Zimmertür hoch und tritt ein, ohne zu klopfen. Er setzt sich auf den Bettrand. David tut so, als würde er schlafen, aber Wacho ist nicht dumm, er greift nach der
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