Bevor Alles Verschwindet
Glühbirne:
»David, die ist noch warm.«
David antwortet nicht. Wacho seufzt und beginnt, dem Hinterkopf seines Sohnes die Geschichte vom Piraten Grimm zu erzählen, der einmal um die Welt gesegelt ist, um dann zu erkennen, dass der Schatz, den er gesucht hat, sein Zuhause war. Wacho hat diese Geschichte im letzten Jahr erfunden, sie sich Stück für Stück nachts im Bett selbst erzählt, alles für David, immer alles für ihn, den Dummkopf, den Jungen, seine Welt. Damit David im richtigen Moment das Richtige zu hören bekommt. Und eventuell ist der Zeitpunkt jetzt gekommen, vielleicht auch nicht, vor allem weiß Wacho, wie er da an der Bettkante sitzt, nicht mehr, was er eigentlich sagen wollte, warum er überhaupt ins Zimmer gekommen ist, mit seinem übertrieben hell leuchtenden Kuchen, der viel zu mickrig ist für die wacklige Kerzenpracht. Warum sitzt er jetzt schon hier, weit noch vor Mitternacht? Die Geschichte wird immer länger, Grimm hat diverse Inseln und Küsten bereist, und Wacho erzählt bis in Davids Geburtstag hinein, und erst gegen drei Uhr am Morgen gelangen Wacho und der Pirat zu einem äußerst glücklichen Ende, das Wacho sich selbst nicht glaubt.
Danach kommt es ihm kurz so vor, als wäre die Botschaft, die er mit dieser Geschichte vermitteln will, zu offensichtlich. Aber was soll er tun, jetzt ist es zu spät, und David muss entscheiden, was er damit macht, und David macht nichts. Er rührt sich nicht, atmet gleichmäßig. Selbst nachdem Wacho ein zweites Mal sagt, »Und das war die Geschichte vom Pira
ten Grimm, der nach Hause kam und dort für immer glücklich war«, bewegt David sich nicht und auch nicht, als Wacho ihm seine Hand auf die Schulter legt. David bleibt still und starr, er fühlt sich an wie aus Holz. David murmelt »Milo«, und demnach ist er wohl doch eingeschlafen, einen fremden Namen ins Haus zu bringen, wagt er sonst nicht. Wacho schluckt, er muss geduldig sein, nicht aufregen, nur nicht aufregen, an dem Punkt war er schon oft, da möchte er nie wieder sein.
»Da haben wir aber mal reingefeiert, was?«, sagt Wacho und »Mit wem hast du vorhin eigentlich gesprochen? Milo, wer ist das?« David bleibt stumm, vielleicht träumt er, und Wacho muss an den Morgen denken, an dem er David beim Frühstück gesagt hat, seine Mutter sei fort. Wie David ihn angesehen hat und gefragt, wann sie wiederkomme und wohin sie gegangen sei. David hat Wacho eine Milliarde Fragen gestellt und nicht eine davon konnte er beantworten. Immer wieder hat Wacho »Ich weiß es nicht« gesagt, und irgendwann ist David von seinem Stuhl gerutscht, hat ihm die Hand auf den Arm gelegt und in einem viel zu erwachsenen Ton gesagt: »Macht ja nichts, Papa.« Endlich traut Wacho sich, etwas zu sagen, was ihm seit Jahren schon nicht mehr angemessen vorkommt. Er nimmt seinen ganzen Mut zusammen, streicht mit seiner breiten Hand über das, was er für Davids Rücken hält, und sagt, sehr leise:
»Ich hab dich lieb, David.« Und jetzt antwortet David, endlich, müde sagt er:
»Mach bitte das Licht aus.«
Wacho nimmt den Kuchen vom Schreibtisch. Die Kerzen sind heruntergebrannt, das Wachs ist auf die Schokolade geschmolzen, aber das kann man bestimmt irgendwie retten. Er geht ins Bett, der morgige Tag wird nicht einfach werden, aber er wird kommen, er steht schon bereit, und dann muss Wacho sprechen und Bürgermeister sein und alles verloren geben. Vielleicht werden sie ihn hassen dafür, dass
er nicht gleich gekämpft, dass er keine Geiseln genommen hat, einsperren sollen hätte er sie, die zwei Fremden. Im Grunde genommen ist es ihm egal, was ihm die anderen vorwerfen. Wenn nur David bleibt und Anna wiederkommt, bevor alles verschwindet. Flussaufwärts ahoi, flussaufwärts ahoi.
Erst als er hört, wie Wacho das Licht im Flur ausknipst und die Tür zu seinem Schlafzimmer hinter sich schließt, macht David die Augen wieder auf. »Gute Nacht«, sagt er in Richtung der Tür. Dann steht er auf und geht zum Fenster. Milo steht unten in der nassen Kälte, in der Dunkelheit, in diesen zwei Unannehmlichkeiten, die zusammengehören. David hätte ihn einladen können, im Rathaus zu übernachten. Nicht bei sich, das noch nicht, sie kennen sich erst seit heute, das wäre zu früh. Milo hätte ein eigenes Zimmer bekommen, sie haben mehr Platz als genug, das seiner Mutter zum Beispiel steht seit langer Zeit leer. David hat daran gedacht, Milo an Wacho vorbei ins Haus zu schleusen, und hat es doch nicht vorgeschlagen. Milo
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