Bevor Alles Verschwindet
schlägt den Stoff zur Seite. Zwei Isomatten, es geht also weiter und von Milo ist draußen nichts mehr zu sehen. Wacho und David, die Übriggebliebenen, die Einzigen, die es nicht schaffen, ein für alle Mal loszulassen.
»Morgen wird ein anstrengender Tag«, sagt Wacho. »Gleich nach der Flutung werden wir Häuser besichtigen. Da oben haben sie welche in Reserve gebaut, für Menschen wie uns, die nachkommen wollen. Da suchen wir uns das Beste aus, das Haus, das am nächsten am See steht, und da ziehen wir dann ein, und wir kaufen dir ein neues Bett und mir einen neuen Esstisch, und wenn deine Mutter da ist, besorgen wir den Rest.« David nickt, und diesmal schlägt Wacho ihn nicht dafür.
Er kriecht ins Zelt und legt sich auf die Isomatte. Viel zu eng ist es, man kann einander kaum ausweichen. Bald schon hört er Wacho ruhig atmen. David bleibt wach, er zittert am ganzen Körper, obwohl ihm nicht kalt ist. Er presst die Zähne fest aufeinander, damit Wacho nicht aufwacht. David versucht sich abzulenken, durch die kleine Öffnung sieht er die drei Holzstäbe, die das Zelt tragen, im Nachthimmel verschwinden. Morgen wird Milo fort sein, und immerhin muss er ihm dann nicht sagen, dass es bei Wacho und ihm keinen Platz gibt für ihn, weil sie nur noch Raum für eine weitere Person haben und diese Person jederzeit kommen kann oder nie, sie müssen warten, dies ist ihre Strafe. Fürs Gewöhnlichsein, denkt David, vielleicht waren wir ihr zu gewöhnlich. Vielleicht war es auch der Ort, der Ort könnte schuld sein. Hier, wo alle Möglichkeiten auf einen Blick sichtbar sind, muss seine Mutter sich eingesperrt gefühlt haben. Und auf
einmal kann David sich ihren Hunger vorstellen, nach mehr, nach irgendwas, und woher soll man wissen, ob das, was man sucht, nicht längst irgendwo anders wartet. Man weiß es erst, wenn man es überall gesucht hat und nicht gefunden.
Der Ort ist schuld, denkt David, und Jules hat er verschlungen, als Rache für den Untergang hat der Ort sich ihn im letzten Moment geholt. David sollte aufhören zu trauern: Morgen wird der Ort bestraft, morgen wird David dabei sein, wenn der Ort verschwindet unter den Wassermassen, wie eine kleine Welt wird er vernichtet werden, die sich nur um sich selbst dreht und deshalb für alles um sie herum eine Gefahr darstellt. Er wird zu Wacho ins Auto steigen und sie werden ihr neues Haus suchen. Er wird machen, was Wacho will, weil Wacho schon genug zu tun hat mit seiner Sehnsucht, da muss David ihm nicht noch zusätzlich Kummer bereiten. Und außerdem ist es, wie es ist, und zwar überall, da macht jeder mit, denkt sich David, der von der Welt etwa zweihundert Quadratkilometer kennt und einen winzigen Ausschnitt Himmel.
Die drei Holzstangen des Tipis stoßen bis an die Sterne und dort graben sie sich fest in diese letzte Nacht. David wagt mit seinem Blick eine Flucht und stellt sich ein Leben jenseits vor, bis er merkt, dass das für ihn unvorstellbar ist. Alles, was er sich ausdenkt, bleibt im Rahmen der altbekannten Grenzen. Selbst Tibet, selbst die Besteigung des Mount Everest, die er sich in seinem Zimmer auf der Matratze und dann hinter der Tür Schritt für Schritt überlegt hat, war eigentlich nur eine Besteigung der Hügel ringsum, allerhöchstens der Staumauer. Sein London sah aus wie der Hauptplatz mit ein paar roten Doppeldeckern. Tibet, Mount Everest und Lhasa, das sind nur Worte für ihn, Buchstabenbilder, mit denen er nichts zu schaffen haben darf, und deshalb ist David aus Tibet nun ein für alle Mal verschwunden und angekommen in der Realität, in der ihn der Schutt durch die Matte in den Rücken
sticht, und er fragt sich, wo Jules wohl ist, ob Jules nun Zugang zu mehr Phantasie hat als er.
Jules wird irgendwo sein, im Hinterzimmer des Bestatters, im Haus seiner Eltern, in Julas Spiegelbild begraben, irgendwo sind sie, sind Eleni, Jeremias, Ernst, Marie, Clara und Robert und Mona und all die anderen, die vor ihnen diesen unbedeutenden Ort verlassen haben. Und wo ist eigentlich Greta? David hat sie vergessen und das tut ihm leid, Greta war immer so nett zu ihm und gerade sie hätte jemanden gebraucht, der sich um sie kümmert und sie von der Idee abbringt, zu Ernst unter die Erde zu gehen. Irgendwo wird auch Greta jetzt sein. Irgendwer ist irgendwo und jeder geht weg, im Rahmen der Möglichkeiten und ob er will oder nicht, und David beruhigt sich und schläft ein.
Milo
Die Flutung
Der letzte Tag beginnt mit Musik. Das altmodische Kofferradio
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