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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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auftauchen in der allgemeingültigen Realität. Auf der Rückseite des großen Bogens ist mit Bleistift ein Haus aufgezeichnet, in der Stadt der Zwillinge gab es nur einen Häusertyp und der glich dem Haus, in dem sie lebten und in dem sie immer noch wohnen, einem der Häuser, die angeblich verschwinden werden.
    »Dann wollen wir mal«, sagt Jeremias und sieht die Zwillinge auffordernd an, Eleni verteilt Filzstifte:
    »Jeder schreibt auf, was er denkt, jeder in eine Ecke.« Jeremias beugt sich sofort übers Blatt, beginnt zu schreiben, die Zwillinge wirken ratlos. Eleni fragt, ob sie helfen kann.
    »Nö«, sagt Jula, »ich find's nur ein bisschen albern. Was soll denn bitte dabei herauskommen?« Jeremias sieht auf, in die Ich-verliere-Spalte hat er gerade ein Wort geschrieben, das man auf dem Kopf nicht entziffern kann.
    »Ein Plan, Kinder. Zum Beispiel, was zu tun ist.« Jules wartet ab, was Jula macht, und die fängt an zu malen, sie malt seit zwei Jahren das Gleiche, eine runde Schnecke mit eckigen Augen, auf dem Panzer einen Totenkopf. Immer Totenköpfe, sogar auf ihrer Bettwäsche hat Jula welche. Jules überlegt, ob er eine Schnecke malen soll, einen Totenkopf, ein Fragezeichen. Er will sich nicht blamieren mit seiner Liste. Sie wird lachen, wenn er die Wahrheit schreibt über seine Angst, sie zu verlieren, und davor, dass sich alles nur noch um den Untergang dreht und sie nicht mehr für sich sein können. Für sich sein mit ihr ist das Wichtigste, was Jules hat. Er hat keine Wünsche, er hat nur diese stechende Angst, sie zu verlieren. Er malt keine Schnecke ab, keinen Totenkopf, Jula hasst es, wenn er ihr Sachen nachmacht. Sie schaut auf seine unbeschriebene Ecke und lacht: »Jules hat anscheinend nichts zu sagen zum Untergang.«
    »Jules«, sagt Eleni, »denk doch noch einmal nach.«
    »Ich weiß nichts«, sagt er, steht auf und geht die Treppe hinauf in sein Dachgeschoss, ins Verbannungszimmer. Jeremias will ihm folgen.
    »Ich mach das schon«, sagt Jula, wirft den Stift auf den Tisch und geht hinter Jules her die Treppe hoch: »Ihr könnt ja noch ein bisschen malen.«
    »Hast du schon was?«, fragt Eleni, als sie allein sind.
    »Nur eine Sache«, sagt Jeremias.
    »Darf ich mal sehen?«
    »Hast du was?«, fragt Jeremias, und Eleni schüttelt den
Kopf, obwohl da was steht in ihrer Ecke. Eleni ist sich nicht sicher, ob es zählt. Es ist kein neues Verlieren, sie vermisst das, was da steht, schon seit Jahren. Niemand weiß davon, nicht einmal Jeremias, und das soll sich auch jetzt nicht ändern. Es bleibt ihr Geheimnis. Eleni nimmt den dicken Filzstift, umrandet das, was viel mehr ist als ein Wort mit einem Kästchen. Jetzt ist es ein Sarg. Eleni drückt zu fest auf, als sie die Fläche schwarz ausmalt, das Papier reißt. Eleni spürt, dass Jeremias sie beobachtet. Aber ihr Wort, ihr Geheimnis kann er nicht gesehen haben.
    »Ich hab nichts«, sagt Eleni. »Ich auch nicht«, sagt Jeremias. Stumm sitzen die beiden noch eine Weile zusammen, dann beginnen sie, den Tisch abzuräumen. Samstagabend ist Pizzaabend im Hause Salamander. Das lassen sie sich durch die Versammlung vom Vortag nicht verderben. Der Teig muss ewig gehen, es ist an der Zeit, anzufangen.
    »Robert hat sein Königsdrama abgesagt«, sagt Jeremias und reißt einen Fetzen Papier ab. Auf dem bewahrt er sein Wort, vielleicht für später, er steckt es in seine Tasche.
    »Das hat doch keinen Sinn«, sagt Eleni, »jetzt schon alles abzublasen. Ein bisschen Zeit bleibt uns ja noch.«
    »Wie das klingt.« Jeremias zieht Eleni hoch in seine Arme, sie fühlt sich an wie immer, weich und warm, und sie riecht vertraut. Er legt sein Gesicht in ihre Halsbeuge.
     
    Greta ist in ihrer Welt ungestört, sie hat keine Verpflichtung mehr zur Geselligkeit. Jeder versteht das; dass sie lieber allein ist, denken die anderen. Doch nun ist dieser Unbekannte hineingeschlurft in Gretas ganz privates Wartezimmer. Sie wird ihn nicht rausschmeißen, nur wegen ein paar Sommersprossen. Greta weiß, was noch passieren kann, falls die anderen verzweifelter werden, in ihrer Angst vor dem Untergang. Sie erinnert sich ungern daran, dass man immer einen Schuldigen braucht. Und dass es merkwürdig ist, dass der Unbe
kannte gerade jetzt und ausgerechnet hier aufgetaucht ist, das kann Greta nicht abstreiten, aber was soll's. Sie winkt ihn hinter sich her zu der schiefen Holzbank, auf der sie nur bei Regen nicht sitzt und trotz dieser Eiseskälte heute sehr gern. Sie gibt dem

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