Bevor Alles Verschwindet
hüpfen vor Freude und springen, und dabei übersieht sie die feinen Sommersprossen, die der Fremde im Gesicht hat. Sommersprossen hatte ihr Ernst nie.
David greift neben sich. Selbst als er die Augen schon auf hat, tastet er weiter, aber da ist niemand außer ihm. Wie ist er letzte Nacht nach Hause gekommen? Er erinnert sich nicht, sich von Milo verabschiedet zu haben, und warum hätte er das tun sollen? Er schaut zum Fenster. Mehr Licht wird es heute nicht geben, es muss schon Mittag sein, der Himmel ist milchig weiß, er kommt zu spät zur Arbeit. David darf diesen Job nicht verlieren, wenn das passiert, muss er fort, anderswo nach Arbeit suchen, aus der Ferne dafür sorgen, dass Geld da ist für Wacho und ihn.
David steht auf, läuft zum Waschbecken. Er schaufelt sich Wasser ins Gesicht, zieht sich an: Jeans und Pullover von gestern, vorsichtshalber den Schal. Seine Mutter hat ihn gestrickt, wer sonst. Nicht, dass der Schal heilig wäre, es ist der einzige, den er besitzt. David läuft die Treppe hinab, klopft im Vorbeigehen auf den Tisch, an dem sein Vater sitzt, nein, liegt. Wacho hängt mit dem Kopf auf der Tischplatte und wimmert. David bleibt stehen.
»Was machst du denn?«, fragt er. Dabei weiß er genau, was Wacho da macht. Über den Boden rollt eine Flasche, aus ihrem Hals rinnt eine rote Linie wie Blut und doch ganz fein auf die Dielen. Auf dem Tisch stehen die Klaren, die Selbstgebrannten. In seiner Hand hält Wacho den Flachmann. Flussaufwärts ahoi, denkt David, und Wacho hebt den Kopf ein paar Millimeter:
»Bleib.«
»Sieh mal«, sagt Robert und: »Was hältst du davon?« Marie ist gebannt, Marie ist verliebt, nicht so wie in Jules, aber doch ziemlich doll. Robert sagt stolz:
»Der sieht aus wie echt, oder?«
»Ist er nicht?«, fragt Marie, und Robert schüttelt den Kopf.
»Ist aus Plastik. Das wäre sonst zu teuer gewesen.« Marie überlegt kurz, dann streckt sie die Arme aus. Robert zögert. »Aber schön vorsichtig, du weißt, den brauch' ich noch für mein Proteststück.« Er sieht zu, wie sich seine Tochter in ihr Indianerzelt zurückzieht, er hört sie murmeln. Marie schaltet die kleine Lampe ein, da sind ihre Schatten, ein unheimliches Bild: Marie und der Totenkopf.
Zögernd kommt er auf sie zu, Greta weiß nicht, was sie tun soll. Sie kann ihn unmöglich küssen, sie ist so alt. »Ich umarme dich«, sagt sie, und er läuft ihr nicht weg, und damit muss es gut sein und in Ordnung. Mit seinen hängenden Armen steht er vor ihr, vielleicht hat er vergessen, wie das funktioniert, so eine Annäherung. Greta wundert sich selbst, dass sie sich noch erinnert. Sie bringt es zustande, sie kann ihn anfassen, ohne dass er sich in Luft auflöst. Das heißt auch, sie kann ihn festhalten, er wird nie wieder gehen, und wenn doch, dann kann sie seine Hand nehmen und mit ihm kommen. Er ist größer und riecht vertraut, sein Tabak, Cremon Latakia Blend, mit einem Hauch von etwas anderem. Das macht nichts,
sie wird sich auf ihn einlassen, wie er jetzt ist. Sie will ihn lieben, so wie früher, aber anders. »Ernst«, flüstert Greta, »mein Ernst.«
Sie merkt seine Anspannung, da stimmt etwas nicht. Sie lässt ihn los. Greta entdeckt die Sommersprossen rund um seine Nase, selbst auf der Stirn hat er welche. Die Enttäuschung fährt durch ihren Körper, es ist ein metallischer Schmerz, der nicht so bald wieder abklingen wird. Sie schluckt mehrmals, räuspert sich, dann ist sie wieder in der Lage zu sprechen. Greta gibt sich unbekümmert, trotz des großen Vermissens, das sie nun wieder in seinen Fängen hat.
»Das macht nichts«, stößt Greta mühsam hervor, »ich kümmere mich trotzdem um dich. Du kannst mir helfen, im Austausch. In Ordnung?«, fragt Greta. Der Fremde spricht nicht und Greta wird ungeduldig mit ihm, mit Ernst war sie es nie. Greta reißt sich aus den Gedanken, sie legt dem Fremden die Hand auf den Arm, dann geht sie in Richtung Nebenkapelle. »Na dann, komm mal mit.«
Sie haben sich noch nicht wieder sortiert, und es dauert länger, als es Eleni lieb ist. Deshalb schlägt sie das mit der Liste vor. Sie sollten alles aufschreiben, sie alle vier zusammen als Familie, sammeln, was jeder von ihnen verliert und gewinnt, Ängste und Wünsche. Jeremias legt ein großes Blatt Papier auf den Tisch, es stammt noch aus der Bastelphase der Zwillinge, als sie den Wohnzimmerboden mit einer papiernen Stadt bepflanzten und die Eltern Angst bekamen, die Kinder würden nie wieder
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