Bevor Alles Verschwindet
machen«, sagt Jeremias und: »Ich bring' dich nach Hause, Greta.« Greta nickt erleichtert, sie will nur noch ins Bett, ihretwegen kann auch Jeremias sie nach Hause bringen. Der gibt seiner Frau noch einen Kuss, streicht ihr über die Wange, flüstert. »Bis gleich, Schatz.«
Während Jeremias und Eleni einander für die Zeit der nun folgenden kurzen Trennung Zärtlichkeiten zuflüstern, wendet sich Greta verlegen ab. Bei den Salamanders ist jeder des anderen Schatz, immerhin, in diesem Haus gibt es sie noch, die heile Welt, da schadet auch ein Kreuz der Verdammnis an der Außenwand nichts und eine kleine Meinungsverschiedenheit zwischen den Zwillingen. Greta entscheidet sich angesichts dieses Trennungsschmerzes, allein zu gehen. Den Lesesessel lässt sie stehen, mitten auf dem Platz, den soll Jeremias oder Jules oder Robert ihr morgen vorbeibringen. Niemand widerspricht, als Greta in Richtung Friedhof davongeht.
Mittlerweile ist es fast eins und Greta spürt die Müdigkeit nicht mehr, aber sie muss ins Warme. Erfroren zu Ernst zu kommen, das ist nicht der richtige Weg. Sie trägt die Decken und Kissen, um die Schultern schlingt sie sich eine Wolldecke. Bisher hat ihr der kleine Wald keine Angst gemacht. Sie kennt jeden Baum, jeden Schatten und außerdem lebt sie seit Jahren auf einem Friedhof. Doch in dieser sternklaren Nacht ist das anders, und beim Betreten des Waldes bekommt Greta ein schlechtes Gefühl, sie bleibt stehen. Irgendetwas ist da.
Ein fremdes, dumpfes Geräusch hinter den Bäumen, Greta entscheidet sich für eine Konfrontation, schließlich hat sie sich
vorgenommen, nicht mehr so vorsichtig mit sich umzugehen. Tiefer hinein wandert sie in den Wald, tiefer als sie müsste, um nach Hause zu kommen. Sie stolpert ein Stück durch das Dickicht, bis an das eiserne Tor. Sie geht schnell, sie will wissen, woher das Geräusch kommt, und dann ins Bett, der Tag, so besonders er auch sein mag, wird ihr entschieden zu lang. Sie muss dringend auf die Toilette und dann die Tabletten nehmen. Energisch öffnet Greta das knarrende Tor.
Da ist das Haus. Das hatte sie ganz vergessen. Auf dem Dach entdeckt sie eine Gestalt. Das muss Davids Milo sein. Er wirft die alten Dachpfannen auf den Boden, ist mit seiner Arbeit schon relativ weit und balanciert nun an der Dachrinne entlang, um noch die letzten Ziegel zu entfernen. Er bemerkt sie nicht oder beachtet sie nicht, vielleicht ist sie für ihn gar nicht mehr existent. Vielleicht ist dies allein seine Realität, diese zwielichtige Nacht. Greta traut sich nicht zu rufen, deshalb spricht sie wie zu sich, aber für ihn: »Pass auf dich auf, sei bei David, bleib bei uns.« Dann dreht sie sich um, schlingt die Decken fester um sich und geht durch den Wald nach Hause. Greta wandert einen Weg entlang, von dem sie nicht wusste, dass es ihn noch gibt.
Robert
Fünf Monate
»Papa?«
»Nein.«
»Papa?«
»Nahein.«
»Papa!«
»Was?«
»Schon gut.«
Robert öffnet die Augen, trügerisch knallt ihm das Licht hinein und gibt sich als Frühling aus, und dann ist es nicht einmal die größenwahnsinnige Februarsonne, sondern die Nachttischlampe, die Marie ihm direkt ins Gesicht hält. Man sollte dem Kind verbieten, Dokumentarfilme zu gucken. Mit den Armen wedelt er durch die Luft, er will die Lampe beiseiteschieben, schafft das auch, fast ein wenig zu gut gelingt es ihm, und die Lampe fällt auf den Boden.
»Papa?«
»Was, Marie?!«
»Das war dumm.«
Einmal Flieger also mit dem Kind, einmal warme Decke weg, Beine in die Luft, anwinkeln, Kinderbauch drauf, Arme greifen, Beine hoch, Kind fliegt, Kind schreit, Knie knackt, Kind lacht. Beine runter. Fertig. Nein, doch nicht, das Kind brüllt »Noch mal!«, also alles auf Anfang, schon lange automatisch, was nicht heißt, dass es ihm keinen Spaß macht und er nicht ganz dabei ist. Robert ist unter anderem ganz dabei, denn nebenbei ist er still und heimlich erschöpft und einer
von denen, die mit Sorge auf alles, was gerade geschieht, reagieren: Die Bagger, die Birnen, die Baustelle da draußen.
»Papa?« Jetzt hat er doch glatt sein fliegendes Kind in der Luft vergessen. Marie blickt ihn von oben herab skeptisch an. Robert kommt der Verdacht, Marie könnte in der Lage sein, Gedanken zu lesen. »Bitte runterfahren«, sagt Marie sachlich, und er gehorcht sofort. Sie legt sich neben ihn und zieht die Decke über sie beide.
»Was machst du eigentlich noch hier?«, fragt Robert, stützt sich auf und begutachtet sein Wunderwerk von
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