Bevor Alles Verschwindet
Tochter.
»Ich bin krank«, sagt Marie.
»Das glaube ich dir nicht.« Marie grinst.
»Mama schon, und die ist Ärztin.« Robert gähnt.
»Stimmt.«
»Ich könnte heute mitkommen zum Proben«, sagt Marie, und das ist wahrscheinlich ihr Plan: die perfekte Inszenierung der bemitleidenswerten Kranken und dann Robert bei den Proben beraten. Sie wird vorher auch noch einen Kakao verlangen, und Robert wird ihn ihr machen, auch wenn Clara nichts von Zucker am Morgen hält. »Kakao?«, fragt Marie und springt aus dem Bett, auf die Lampe, brüllt einmal kurz »Au!« und läuft dann aus dem Zimmer, um die Milch aus dem Kühlschrank zu nehmen. Robert ist fasziniert. Auf dem Boden neben dem Bett liegt der zertretene Lampenschirm, aber die Glühbirne ist merkwürdigerweise noch heil; was für ein Glück, das muss einfach ein guter Tag werden.
Auf dem Hauptplatz hat sich eine Gruppe Übriggebliebener versammelt, schweigend observiert sie das klobige Etwas, das die Verantwortlichen soeben aus dem Transporter gewuchtet haben. Einer der Männer, nicht Monas Mann, von dem fehlt jede Spur, positioniert sich neben dem mit weinrotem Stoff verhängten Ding. Ohne seinen dunkelblauen Anzug würde der Verantwortliche sich kaum von der Umgebung abheben,
gräulich und stumpf ist seine Haut, genau wie der müde Winterboden. Auffällig ist allein seine wild gemusterte Krawatte. Jemand muss ihn gezwungen haben, sie umzubinden, der Mann sieht nicht aus, als habe er Humor.
»Das ist ein großer Moment«, sagt der Verantwortliche. Jeremias runzelt in Elenis Richtung die Stirn, seine Frau hat ihre mehligen Arme vor der Brust verschränkt, skeptisch und angriffslustig. »Das Modell!«, ruft der Verantwortliche und zieht schwungvoll die Abdeckung zur Seite. Der Stoff fliegt erst Mona, dann Greta, dann Jules ins Gesicht. Der Verantwortliche schaut ohne Unterlass und höchst begeistert auf die Überraschung, er merkt nicht, wie die drei sich die Augen wischen.
»Ein schlafendes Schneewittchen«, flüstert Greta, sobald sie wieder klar sehen kann, und Jules zuckt zusammen. Schneewittchen, das war bisher immer Jula. Aber Greta hat recht: Vor ihnen ruht ein bildschöner Weltuntergang im Glassarg.
Aber warum, womit haben sie diesen Anblick verdient? Vielleicht als Strafe für das Verschmieren der Schrägstriche und Nummern? Für ihre mangelnde Begeisterung für die schöne neue Welt, die sie bald von oben bestaunen können? Wahrscheinlich aber steht das Modell einfach deshalb auf dem Hauptplatz, weil der große Plan es so vorsieht. Das alles hat nichts mit ihnen und ihrem Verhalten zu tun, sie machen nichts schlecht und nichts gut, sie sind nur ein kleiner Teil der Welt, die verschwinden soll.
Da steht unscheinbar und in Grau auf der einen Seite der Istzustand, nur ohne Menschen, mit Tal, Ort und Traufe, und auf der anderen Seite befinden sich, nur durch eine Glasscheibe getrennt von der profanen Normalität: der See und eine weitere Verantwortliche, die Mauer.
Auf das kristallklar gemalte Wasser hat jemand zehn kleine und größere Boote und Fähren gesetzt, auf dem See und um ihn herum spielt sich ein paradiesisches Leben ab. In sehr
offensichtlich sorgfältig unregelmäßig inszenierten Abständen sind rund um den See sechs Figuren mit hauchdünnen Angeln positioniert. Vier von ihnen haben neben sich kleine Eimer stehen, darin Fische bis zum Rand.
»Woher kommen die Fische?«, fragt Marie und drückt die Nase gegen die Scheibe.
»Vorsicht, bitte«, sagt der Verantwortliche, und Robert zieht Marie zu sich.
»Tun die die Fische da rein, wenn der See da ist?«, fragt Marie, ohne sich um den Verantwortlichen zu kümmern. Niemand antwortet ihr.
Es gibt tiefbraune Holzstege, die weit in den See hineinragen, auf einem sitzt ein rosarotes Liebespaar, eng umschlungen einen unsichtbaren Sonnenuntergang über dem See bewundernd, natürlich einen Sonnenuntergang, was sonst? Und es gibt noch viel mehr als das: Es gibt hübsche Restaurants mit weiß gestrichenen Holzbohlenterrassen und mit Blick auf den See, es gibt einen karibisch weiß leuchtenden Sandstrand, es gibt kleine Schwimmer, voll ausgestattet, ein wenig altmodisch oder auch übervorsichtig, allesamt tragen sie Badekappen. Neben dem Schwimmbad gibt es einen Campingplatz mit primärfarbenen Zelten und einem Lagerfeuer, rundherum Jugendgruppen und überall: Reisebusse, Parkplätze, Eisstände, Sommerglück. Es gibt sogar eine Seilbahn, die ist das Verbindungsstück und fährt zwischen Tal und
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