Bevor Alles Verschwindet
Hügeln hin und her, und auf einem der Hügel, das betont der Verantwortliche nun ganz besonders, auf einem der Hügel thront ihr neues Leben mit Blick auf das Paradies, wo andere Ferien machen, und das können sie übrigens auch, wenn sie wollen. Alles möglich da unten und da oben alles wie früher. Sie sollten überhaupt mal vorbeikommen im neuen Ort, dort steht schon einiges, worauf sie sich freuen können, und sie sollten unbedingt bald beginnen, sich einen Namen für ihre neue Heimat zu überlegen, das schaffe Verbundenheit. Das Neue, das der
Verantwortliche ihnen verspricht, findet man nicht unter der Glaskuppel.
»Ich hätte uns alle gern als Modellfiguren gesehen«, sagt Greta versonnen, und Mona ruft entsetzt: »Ich nicht. Um Himmels willen, bloß das nicht auch noch.« Mona flieht. Erst schüttelt der Verantwortliche den Kopf, hört aber damit auf, als die anderen Bewohner Mona nach und nach stumm folgen. Sie würdigen ihn keines Blickes, keines Wortes, und er huscht zu seinem Wagen, stolpert hinein und fährt mit Schrittgeschwindigkeit davon.
Obwohl die Tage wieder länger werden in diesem Februar, in dem die Sonne sich stets hinter Wolken verbirgt, vergeht die Zeit doch schneller. Wo vor kurzem noch die Tannen den Ort nach Norden abgrenzten, ist jetzt ein Loch. Es sieht tief genug aus für ein Fundament, sogar zu tief, aber Jula hat ja keine Ahnung. Sofort nach Bekanntgabe der Maßnahmen haben sie mit dem Graben begonnen, unzählige Gelbhelme, mit ihren Kränen, Baggern, mit ihrem Werkzeug haben sie den Ort übernommen, und sie lassen ihn mit einer Geschwindigkeit verschwinden, die die Bewohner in Angst und Schrecken versetzt.
Es ist stürmisch geworden und außerhalb des zweiten Gebäuderings muss man sich gegen den Wind stemmen, dabei liegt der Ort doch im Tal. Obwohl es nicht regnet, ausnahmsweise, setzt Jula die Kapuze auf. Erstens zur Tarnung, zweitens gegen den Wind. Jula tritt noch ein Stück näher, bis an die Absperrgitter heran. Genau dieser Punkt, an dem sie steht, wird zur Mittagszeit in ein paar Monaten im Schatten liegen. Die Staumauer soll über hundert Meter hoch werden.
»Ganz schön beeindruckend, was?«, sagt plötzlich, wie aus dem Nichts, eine Stimme, und Jula zuckt zusammen, dreht den Kopf weg von der Grube. Da steht dicht neben ihr einer von denen, ein Bauarbeiter. Jula kann seine Augen nicht se
hen, sie liegen im Schatten des gelben Helms. Die tragen sie alle, diese Helme, auch die weiten Hosen und blaue oder schwarze Pullover. Bis auf einen. Diesem Gelbhelm fehlt die leuchtende Weste, dieser Gelbhelm ist im T-Shirt, trotz der Kälte, aber das interessiert Jula nicht. Sie starrt auf die blassblauen Federn, die sich über seine Arme ziehen. Jula ist beeindruckt, das müssen unglaublich viele Stiche gewesen sein.
»Hey«, sagt der Vogelmann und Jula schreckt auf. Der Mund unter dem Helm grinst freundlich. Da versucht doch tatsächlich einer von denen, mit ihr zu flirten. Jula dreht sich sofort weg, bloß kein Kontakt, was man nicht beachtet, das kann einem nichts anhaben, das kann sie mal.
»Alles okay?«, fragt der Vogelmann.
»Schnauze!«, brüllt Jula und läuft los.
»Hey!«, ruft hinter ihr das Federvieh, aber zum Glück bleibt es stehen, wo es ist, wo es hingehört, glücklicherweise folgt es ihr nicht.
Kurz vor dem Ortsschild stolpert Jula über ein Kabel und schlägt lang hin. Sie liegt auf dem harten Boden, inmitten von Geröll und ein paar Brettern und fragt sich, ob sie soeben Jules' Lieblingshose ruiniert hat. Höchstwahrscheinlich schon, in den letzten Wochen ist praktisch nichts heil geblieben.
Er hat ihr verboten, die Hose anzuziehen. Es ist neu, dass er ihr etwas verbietet, und nun weiß sie auch warum, sie ist zu gefährlich geworden, für Dinge, die ihm wichtig sind. Jula rappelt sich auf und läuft, ohne sich noch einmal umzusehen, zurück und in Sicherheit.
David starrt durch das Fenster auf den Platz. Milo ist immer noch verschwunden. David denkt an die löchrige Jacke, die schweren Schuhe und Milos Hand, die die Macht hat, David in die beste aller Welten zu ziehen. Da ist er, da sind seine Schritte, da steht plötzlich Wacho im Zimmer, der David wegreißt vom Fenster und von dem Blick aufs Modell. Da ist
Wacho, der vor Angst zu stottern beginnt, und da ist David, groß und stark und eigentlich alt genug für den Freigang, der seinem Vater schwört, sich von jetzt an von allem da draußen fernzuhalten, hoch und heilig, und Wacho sagt, »Sieh
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