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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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umdreht, schiebt sich der Bagger auf den Platz. Nach dem Modell erobert nun schon das zweite Monster den Ort, und der bleibt träge und wehrt sich nicht.
    Robert schraubt sich langsam in die Höhe, er denkt an Marie, daran, dass sie nicht unter die Räder kommen darf, er ist dran mit Aufpassen. Er sieht sich um zum Tore, im zweiten Stock unter dem Dach befindet sich sein Theatersaal, und aus dem einzigen Fenster blickt Marie auf den Platz hinab. Robert ist zufrieden: Seine Tochter sitzt auf dem Logenplatz und er ist an vorderster Front. Ihm fallen nur fremde Dinge ein, die er dem Bagger entgegenwerfen kann. Gute Zitate, Shakespeare, nichts Eigenes: Die Hölle ist leer / Und alle Teufel sind hier! Das mag er. Das könnte er für den Mann am Steuer der Maschine rezitieren. Und wenn der ihn dann hinausstoßen sollte aus dem Führerhaus, in das Robert sich hineinzukämpfen gedenkt, dann wird er sich wehren, wird im Kampf zwischen den Zähnen hervorstoßen: »Der Feige stirbt viermal, eh' er stirbt, die Tapferen essen einmal nur den Tod!« Damit könnte er den Baggermann zum Nachdenken anregen. Oder auch nicht. Vielleicht, denkt Robert, möchte der Baggermann heute gar nicht nachdenken. Weil er einen Auftrag hat, einen Job, der vorsieht, dass er heute etwas zerstört. Nur was? Es gibt so einiges, was man hier zerstören kann. Den Brunnen zum Beispiel. Die weiße Treppe. Vielleicht auch die Straßenlaternen, er wird es gleich sehen. Dann kann er immer noch reagieren, überlegt, adäquat und vielleicht bleibt ihm sogar Zeit für filmreif.
    Der Bagger bremst direkt neben der Linde. Robert hält die Luft an, ihm geht ein indianisches Sprichwort aus seiner ökologischen Phase durch den Kopf: Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr verstehen, dass man Geld nicht essen kann . Robert nickt. Sehr weise, wenig hilfreich. Die werden doch jetzt nicht den Baum mit dem Bagger umwälzen? Erst mal nicht, aus dem Schlachtschiff springt ein Mann, einer von denen mit den gelben Helmen, einer von denen, die hier nichts zu suchen haben.
    »Hallo«, ruft der behelmte Mann Robert zu, der sich betont lässig gegen das Modell lehnt und einen Rauchring in die Luft haucht. Robert wird dem Rauch nachblicken, falls der Mann tatsächlich zu ihm kommen sollte, den Kerl selbst wird er nicht beachten, keinen Blick wird er ihm gönnen, und vielleicht wird er den Mistkerl so weit bringen zu glauben, er würde gar nicht existieren. Wenn man lange Zeit nicht beachtet wird, kann einem das passieren, das weiß Robert. Hallo, denkt Robert. Hallo?! Was denkt sich der Typ hier mit einem riesenhaften Bagger anzufahren und dann ein zärtliches »Hallo« über den Platz flattern zu lassen? Wie soll das zusammenpassen? Marie presst ein Schild an die Scheibe: Mach den weg!
    »Das ist meine Tochter«, sagt Robert, ohne den Kerl anzusehen, aber grob in dessen Richtung. »Sie wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie verschwinden würden. Sie und Ihr Bagger.« Robert bewegt den Blick vom Fenster weg, der Kerl steht direkt vor ihm, und Roberts Plan, den Typen unsichtbar zu machen und dadurch vielleicht sogar inexistent, ist dahin.
    Der Gelbhelm kann nicht viel älter sein als die Zwillinge, aber man sieht ihm an, dass er Anstrengenderes tut, als Briefe auszutragen und Bleche zu heben. Dabei hat der Typ nicht mal Arme, der Kerl hat Flügel. Robert hatte sich lange Zeit ein Tattoo gewünscht, aber sich nie getraut, sich eines stechen zu lassen. Nicht wegen der Schmerzen, sondern wegen der Ewigkeit, der er sich damit ausgesetzt hätte. Aber wenn, dann hätte er genau so ein Tattoo gewählt, er und der Gelbhelm haben denselben Geschmack. Da steht jemand zum Billardspielen vor ihm, zum Biertrinken. Da steht eindeutig ein Kumpel vor ihm, und auf einmal denkt Robert an die Zeit mit Meise.
    Robert hatte einmal einen Kumpel, er nannte ihn Meise und der nannte ihn Kröte, und warum jeweils was, das weiß Robert nicht mehr. Der Kumpel und er haben rumgesessen zusammen, an der Biegung der Traufe, unter der Trauerweide mit Bier und einem Schachbrett, ab und zu mit einem Joint,
den Meise besorgt hat. Meise war jemand, der den Ort von Zeit zu Zeit verließ, um wichtige Dinge aus der Außenwelt einzuführen, und bis auf jene Ausflüge erlebten Meise und Kröte nahezu alles gemeinsam.
    Der Sinn ihrer Treffen bestand in der Auswertung, das heißt, sie gingen alles Erlebte und Erträumte Punkt für Punkt durch und überlegten dann

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