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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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gemeinsam, was unterm Strich herauskam. Auswerten konnten sie jeden Sachverhalt, ob es nun um die Eltern ging, um die Berufswahl oder um Philosophie. Mit den Frauen allerdings hatte sich ihre Zeit an der Traufe dann erledigt.
    Natürlich nicht sofort beim ersten Aufkommen des Themas, aber doch ziemlich bald. Mit sechzehn hatte sich Kröte in Clara verliebt und beschlossen, den Rest seines Lebens mit ihr zu verbringen. Ein Jahr zuvor hatte Meise dieselbe Idee gehabt, der Rest seines Lebens hatte aber schon ein paar Wochen nach diesem Einfall geendet, und so konnte er jetzt mit der Weisheit des Erfahrenen verkünden, dass er Roberts Schwärmerei als zukunftslos bewertete. Robert nahm ihm das nicht übel, Clara hatte schließlich die gleichen Bedenken geäußert. Robert selbst war felsenfest überzeugt, da konnte ihm niemand was, nicht mal Meise, sein alter Kumpel. Aber Robert hat in den Auswertungsphasen unter der Weide ausschließlich über Clara sprechen wollen, mit der er damals nicht einmal zusammen war. Meise hat ihm dann eines Tages die Finger im Schachbrett eingeklemmt und »Scheißegozentriker!« gebrüllt. Meise brüllte sonst nie, und Robert hat sich sehr erschrocken, er hat erst zurückgebrüllt und dann hat er Meise mit seinen geschwollenen Fingern eine gelangt. So richtig ins Gesicht. Daraufhin hat Meise ihn kopfüber in den Fluss geworfen.
    Eine halbe Stunde lang stand Robert ufernah in der lauwarmen Traufe, erst hat er Meise nachgesehen, dann ins Nichts gestarrt, und dabei ist ihm sein Dasein als Kröte davongeschwommen. »Ich hätte mir das Genick brechen können,
ich hätte draufgehen können«, hatte er gerufen, da war Meise längst weg gewesen. Und als er die Traufe verließ, war er nur noch Robert Schnee, drei Jahre später schon Claras Mann, und Meise war nur noch ein dämlicher Spitzname.
    Dass das nun mal so sei mit Jugendfreundschaften, die eigentlich Jungsfreundschaften waren, hat er sich gesagt, beim Feierabendbier in der großen Runde, bei den oberflächlichen Auswertungen von Dingen, die die Allgemeinheit betrafen und ihn nicht interessierten. Aber warum fällt ihm Meise jetzt, beim Anblick eines tätowierten Gelbhelms, eines dieser Monster, wieder ein?
    »Alles in Ordnung?«, fragt der Vogelmann. Er lispelt leicht, Roberts geschulten Ohren fällt das auf.
    »Ja«, sagt Robert automatisch und erst dann erinnert er sich. Natürlich ist nicht alles in Ordnung, er steht vor einem Feind. Um seinen Fehler wiedergutzumachen, schüttelt Robert den Kopf.
    »Kann ich helfen?«, fragt der Typ.
    »Ja«, sagt Robert und: »Zieh Leine!« Das ist ein Satz aus der Vergangenheit, Robert lächelt verzaubert. Während der Vogelmann überlegt, schaut Robert beschwingt zum Fenster hoch. Marie hält mittlerweile ein neues Plakat an die Scheibe, und Robert fragt sich, wie viele ihrer Schilder er während seiner Rückblende wohl verpasst hat. Er sollte aufmerksamer sein. Hau ihm eine rein, Papa , hat Marie geschrieben, in Druckbuchstaben. Robert hebt den Daumen in Richtung Marie, aber er schlägt nicht zu.
    »Es tut mir sehr leid«, sagt der Vogelmann. »Es ist nur mein Job.«
    »Das sagen sie alle«, sagt Robert blitzschnell.
    »Wer?«
    »Na alle halt, die irgendwas zerstören. Regenwälder, die Umwelt, den Markt.«
    »Das wusste ich nicht«, sagt der Typ und: »Ich sage das
heute zum ersten Mal. Ich komme übrigens ganz aus der Nähe. Aus –«. Der Gelbhelm nennt den Namen seines Heimatorts, doch Robert hört längst nicht mehr zu, er wartet auf das nächste Plakat. Aber das Fenster ist schwarz, von Marie und ihren Anweisungen keine Spur. Vielleicht ist es ihr zu langweilig geworden, vielleicht bastelt sie schon weiter an dem Totenkopf, den er für sein kritisches Stück braucht. Vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee, vielleicht sollte er wieder hineingehen und drinnen den Aufstand proben. Es wird einem auch ziemlich kalt, wenn man länger hier steht.
    »Der Baubranche geht es momentan nicht sehr gut, deshalb --« Robert dreht sich wortlos weg und geht aufs Tore zu. »Es ist nicht meine Schuld!«, ruft hinter ihm der Vogelmann und dann brüllt er so entschlossen, dass sogar sein Lispeln verschwindet: »Aber es tut mir trotzdem sehr leid, und das meine ich ernst!«
    »Was brüllst du denn so?«, brüllt ein anderer Bauarbeiter den Bauarbeiter an. Robert ist froh, schon vor dem Erscheinen des zweiten Typenden Rückzug angetreten zu haben. Nicht dass die denken, er hätte Angst, gegen zwei von ihnen

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