Bevor Alles Verschwindet
anzutreten. Der zweite Gelbhelm trägt statt Vogel Schlange, sie windet sich den linken Arm hinauf, höchstwahrscheinlich über den Nacken, und beißt den Gelbhelm ins rechte Handgelenk. Schlangenmensch und Vogelmann sehen Robert an. Natürlich würde Robert sich trauen, gegen die beiden anzutreten, aber was brächte das schon?
An der Tür zum Wirtshaus kommt ihm Marie entgegen. Sie trägt das Kostüm der eiskalten Königin, die in seinem Stück neben dem Tod für das abgrundtief Böse steht, und natürlich ist ihr das lange Gewand viel zu groß.
»Hast du ihm eine reingehauen?«, fragt Marie, und Robert nimmt sie auf den Arm.
»Klar«, sagt Robert und dann: »Aber Gewalt ist keine Lösung.«
»Stimmt«, sagt Marie. »Dann hast du ihn also nicht gehauen?«
»Nein«, sagt Robert. Er spürt, wie Marie an seiner Schulter nickt. »Wir gehen jetzt rein und proben den neunten Akt«, sagt Robert. Er hält nichts vom Anblick tragischer Realitäten und nichts von der klassischen Drei- oder Fünfteilung der Geschichte, er will für sich sein, allerhöchstens mit Marie. Oder mit Meise, aber das gehört wohl auch endgültig zu diesem blödsinnigen Es-war-einmal.
Manchmal stellt Greta sich vor, sie würde mit Ernst auf der Bank vor der Nebenkapelle sitzen. Sein Pfeifenrauch steigt in den Himmel und sie bittet ihn, einen Ring zu machen. Einer gelingt immer, einen Ring hat er jedes Mal für sie geschafft. Dann fällt Greta wieder ein, dass es Ernst nicht mehr, gibt, und bald gibt es auch die Bank nicht mehr, und vorher noch wird sie selbst verschwunden sein. Sie kann es nicht überblicken, dieses Nichts, und das macht ihr Angst. Ihr Leben war bisher ein planbares, sehr überschaubar, das aufzugeben kann sie sich nur schwer vorstellen, und dennoch muss es sein; es ist entschieden. Im Medizinschränkchen lagern Herzmittel, Schlaftabletten und anderes Zeug, wenn sie alles zusammenschüttet, müsste es reichen. Vielleicht nimmt sie aber auch das Dach, vielleicht segelt sie von dort aus ihrem Ernst entgegen. Greta stellt das Schnapsglas beiseite, legt die Stricknadeln weg und steht auf.
Am Hauptplatz stiert der Vogelmann in den Plexiglaskasten. Ein Blutfleck über einer der kleinen Figuren, was der winzige Mann da unten am Wasser tut, ist nicht mehr zu erkennen.
»Und was macht der da im Bagger?«, fragt der Schlangenmensch.
»Was meinst du?«
»Da sitzt jemand im Bagger und übt für den Führerschein.«
Der Vogelmann reißt sich vom Modell los. Er sieht zum Schlangenmenschen, seinem Kollegen und Kumpel, von dessen ausgestrecktem Zeigefinger weiter zur Linde und den Stamm hinab, bis zum Bagger. Das dauert, und bis er mit seinem Blick dort angekommen ist, hat sich sein Bagger schon in Bewegung gesetzt.
»Scheiße, was soll das?«, ruft er und rennt auf den Bagger zu. Auch der Schlangenmensch läuft los. Schnell ist der Bagger nicht, aber noch ist nicht auszumachen, wo der Vollpfosten hinter dem Lenkrad mit dem Ding hinwill. Sie müssen aufpassen, der Typ wird sie hemmungslos überrollen, der Boden wackelt.
»Was hast du vor?«, brüllt der Schlangenmensch und meint den Kerl im Bagger.
»Keine Ahnung!«, brüllt der zurück.
»Dann halt einfach an. Die Bremse ist links, beruhig dich.« Der Schlangenmensch kommt sich sehr vernünftig vor, er mag das und er denkt kurz darüber nach, doch noch Kinder einzuplanen. Er wird das heute Abend mit seiner Freundin besprechen, vielleicht könnten sie sich auch erst einmal einen Hund zulegen oder Salzkrebse. Der Bagger fährt direkt auf ihn zu, und der Schlangenmensch überlebt den Angriff nur, weil der Vogelmann sich zu diesem Zeitpunkt in der Gegenwart befindet und nicht wie er in der Zukunft. Der Freund zieht ihn im letzten Moment zur Seite, sie liegen auf dem Boden, während der wildgewordene Bagger auf das Modell in der Mitte des Platzes zuwalzt. Jetzt fährt die Schaufel hinab und ihr Metall kreischt über das Kopfsteinpflaster.
Der Lärm lockt einige Einheimische hinaus, und wenn nicht das, so doch wenigstens an die Fenster. Mit Entsetzen erkennen sie, wer da über den Platz rast. Aber sie lassen Jules machen, sie lassen ihn fahren, er ist der Erste, einer von vielen, die noch ausrasten werden, angesichts all der Ungeheuer, die sich den Ort einverleiben wollen.
Es fühlt sich gut an und liegt gleichzeitig schwer im Magen. Jules hat keine Ahnung, was das soll, was er da verbricht. Jedenfalls: Sobald der blöde Gelbhelm den Bagger verlassen hatte, wusste er, dass er eine
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