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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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Runde fahren muss. Dass er einen Führerschein hat und bisher unfallfrei ist, hat ihn beruhigt, als er sich auf den breiten Sitz mit dem Massagebezug gesetzt hat. Er hat sich nicht die Mühe gemacht, alles richtig einzustellen, es musste schnell gehen, sie würden versuchen, ihn aufzuhalten.
    Jules saß ganz vorn an der Sitzkante. Er ließ den Motor an, er versuchte zu schalten, er war es gewohnt, einen Lieferwagen zu fahren, wenn auch keinen Dreieinhalbtonner. Seine Hände zitterten, als das Ungetüm anfing loszurollen. Vielleicht weil er keinen Plan hatte oder weil er nie vorgehabt hat, eine Straftat zu begehen, und das hier, das ist doch wohl eine, oder nicht? Er wird Aufmerksamkeit bekommen, aber so was von. Er weiß, wie es ist, im Mittelpunkt zu stehen, aber in letzter Zeit ist er irgendwie im Schatten verschwunden, weil er nur noch einer ist und weil er nur zusammen mit Jula auffallen kann. Ganz egal, für wie schön sie ihn halten, so richtig strahlen sie nur gemeinsam. Aber Schluss jetzt damit, er muss aufpassen, er muss sich unbedingt konzentrieren.
    Die Lösung fällt ihm ein: Er kann das Monstrum aus dem Ort locken, es an der Linde vorbei die enge Straße hinauf bis zu den Bauzäunen fahren. Die wird er durchbrechen, das muss doch gehen mit so einem Gerät. Dann kann er weiterfahren, die Bauarbeiter werden zur Seite springen, links und rechts wie im Film, das hier ist sein Film. Er wird an das Bauloch kommen, an den Schlund, er will das Loch Schlund nennen für seinen Film, das klingt besser, das hat er aus irgendeinem amerikanischen Roman. Vielleicht wird Jula hinter ihm herlaufen, ihn anflehen zu halten, aber Quatsch: Jula ist kein Mensch, der fleht, und außerdem ist Jula stinksauer auf ihn und sie vergisst nicht so schnell, auch nicht, wenn er sich hier
für sie zum Helden macht. Das Ganze bringt also nichts. Kein Zögern kurz vor dem Absturz, kein letztes Durchtreten des Gaspedals, kein Blick zurück.
    »Milo«, ruft eine Stimme, sie gehört David. Wo verdammt steckt der, der ist doch nie draußen, warum gerade jetzt? Jules sucht nach David, versucht einen Menschen zu entdecken, der Milo heißen könnte. Da schweben plötzlich Bretter vor Jules über den Platz, versperren seine Fahrbahn. Das Modell, das neben dem Schlund ein symbolträchtiges Ziel hätte sein können, umfährt Jules in einem Bogen und erkennt dann einen Menschen unter den Brettern, und ab dem Moment kann er nicht mehr klar denken, was sich gewöhnlich anhört, aber ziemlich schlimm anfühlt. Jules' Kopf ist vollgestopft mit Wörtern und Bildern und er denkt immer wieder »Denk nach!«, und schon ist dieses Denk-nach zu einem Wort geworden unter unendlich vielen. Milo, denkt er noch, das muss dieser Milo sein. Dann wird es dunkel.
    Jules hält an der kahlen Linde, oder besser: Die alte Linde hält Jules und mit ihm den Bagger. Ein Riss zieht sich quer durch den Stamm, der obere Teil knickt ab, wie morsche Knochen bricht das uralte Holz des ersten Baums, der als einer der letzten die Stellung hält. Aber selbst wenn die Linde jetzt tot zu sein scheint, den Verantwortlichen steht noch ein langer Kampf bevor mit ihren Wurzeln, den sie irgendwann aufgeben werden, und die Wurzeln bleiben, wo sie sind, auch als sich der Boden längst in den Grund eines Sees verwandelt hat. Ein Taucher wird sie fotografieren im grüngrauen Licht, und auf dem Bild wirken die Wurzeln wie ein Geflecht aus Adern, wie ein Weiterleben ohne Körper.
    Hastig sieht Jules sich um, keine Spur von diesem Milo. Vielleicht hat er sich ihn und David nur eingebildet, das wäre das Beste. Jetzt rast ein Gelbhelm auf Jules zu, und Jules starrt sprachlos in die gelben Augen einer Schlange:
    »Danke, Kleiner, den wollten wir ohnehin heute umlegen.«
    Nur eine Sekunde hat David die Augen zugekniffen, ganz automatisch und anstatt etwas Sinnvolles zu tun. Da war Milo auf dem Platz, da war Jules im Bagger, da waren die Bretter, da war Wacho an der Tür, sein ewiges Gebrüll. Milo müsste auf dem Platz liegen, aber dort liegt niemand, da liegt nur die zersplitterte Linde. David muss Milo suchen, er muss hier raus.
    Der Vogelmann erschrickt, als er vor sich die männliche Kopie des schönsten Wesens entdeckt. Dann reißt er sich zusammen und handelt, wie alle hat auch er gerade einen auffrischenden Erste-Hilfe-Kurs absolviert. Er wirft einen prüfenden Blick auf den Jungen am Steuer, sagt »Sieh mich an« und »Folge dem Finger!«. Natürlich steht der Idiot unter Schock, aber

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