Bevor Alles Verschwindet
gemeinsame Zukunft sprechen, über etwas nach dem Untergang, über Dinge, die auf Elenis Liste bei den guten Sachen stehen würden, bei dem, was man hofft, für die Zeit, wenn sie woanders sein werden und frei.
Oben auf der Luke landen ein paar Schneeflocken oder Papierschnipsel oder Asche oder so. Jules rappelt sich auf, sein Kopf schmerzt, einen Moment lang rechnet er damit umzukippen, wie es Jula einmal passiert ist. Er kippt nicht um, aber ihm wird schwindelig, als er den Schreibtischstuhl unter die Luke schiebt, ein paar ungelesene Geschichtslexika daraufstapelt und dann zu balancieren beginnt. Er ist nicht feige, so ist das nicht. Die Luke lässt sich schwer öffnen, er muss mehrmals gegen den Rahmen schlagen. Irgendjemand hat ihn so schwungvoll lackiert, dass er zugeklebt ist. Als Jules die Luke aufstößt, stürzt er fast von seiner Konstruktion. Im letzten Moment hält er sich am Fensterriegel fest.
Asche und Schnee und Papierschnipsel sind nicht mehr zu sehen, weder auf dem Glas noch auf dem Rahmen. Mit beiden Armen zieht Jules sich hinauf, unter ihm kippt der Bücherstapel um. Er schwingt sich ein Stück nach vorn, und dann sitzt er auf dem Dach und kann alles überblicken. Er hätte die Luke vorher entdecken können, er hätte schon längst einmal auf dem Boden herumliegen und an die Decke starren sollen. Aber dafür gab es bisher keinen Grund.
Unter ihm liegen die Häuser, aus den Schornsteinen steigt Rauch, da ganz hinten erhebt sich bald die Staumauer. Weiter rechts, hinter den ersten Häuserreihen entdeckt Jules das seltsame Haus. Da sitzt dieser Milo auf dem Dach und ist immer noch damit beschäftigt, alles abzudichten. Als könnte dann der See nicht ins Haus strömen. Wichtig ist: Milo wurde nicht schwer verletzt bei der Aktion vorhin mit dem Bagger. Grüßend hebt Jules die Hand in Milos Richtung. Milo reagiert nicht, springt nicht hinunter, um eine Hoffnung zu erfüllen, er ist mit den Dachziegeln beschäftigt und mit diesem seltsamen Traum, den er anscheinend in letzter Minute noch in die Realität wuchten will. Und: Wie kann das sein – da unten vor dem kleinen Haus sitzt David und wartet, er wartet bestimmt auf Milo, und Jules fuchtelt mit den Armen, will David auf sich aufmerksam machen, will ihm zeigen, dass Milo längst da ist. Aber David bemerkt Jules nicht, David geht jetzt ins Haus, und Jules fragt sich, wie man so blind sein kann.
Unten auf dem Hauptplatz sind die Bauarbeiter dabei, das Chaos, das er vorhin angerichtet hat, in den Griff zu bekommen. Gerade zerlegen sie die Linde, der halbe Baum liegt in großen Klötzen und säuberlich gestapelt auf einem Anhänger, nur ein Stück Stamm ist geblieben. Jules friert und er fragt sich, warum er überhaupt aufs Dach gestiegen ist. Vielleicht um Robert zu entdecken, der sich in Lebensgefahr begibt, der auf einem weiteren Dach auftaucht, auf den brüchigen Ziegeln des Wirtshauses.
Das ist gefährlich, was er da gerade macht. Aber andererseits ist es etwas, was Robert noch nie zuvor getan hat, wann also, wenn nicht jetzt, die Gelegenheit nutzen für eine Zigarettenpause auf dem Dach? Marie spielt in einer Ecke friedlich mit dem Totenkopf und der Theaterschminke, und Clara wird frühestens in zehn Minuten hier auftauchen. Bis dahin wird er aufgeraucht und einen weiteren Punkt auf der alten Liste abgehakt haben, an die er sich mit einem Mal erinnert hat. Die Liste, die er mit Meise anfertigte, in tagelanger Arbeit, nach unzähligen Auswertungen. Die Liste der wichtigen Dinge ist ihm über die Jahre verloren gegangen, genau wie er Meise vergessen hat. Bis jetzt alles wieder aufgetaucht ist, beim Anblick eines x-beliebigen Bauarbeiters. Nur der Name nicht, für Kröte bleibt Meise Meise.
Robert will rauchen und über allem stehen und den Abstand wahren zur Welt, die nicht einfacher werden wird in den nächsten Jahren, seit damals mit Meise und dem Fall in die Traufe ist es schwierig geworden. Da drüben, auf dem Salamanderhaus, hockt Jules, der Kamikaze-Zwilling. Robert winkt hinüber und Jules winkt zurück und Robert muss grinsen. Meise war wahrscheinlich auch so ein Jules, einer, der andere brauchte, um Bestätigung zu finden. Aber mal ehrlich: Ist er selbst da anders?
»Ja«, ruft Robert laut. Er ist Ortsschauspieler, er hat an den besten Tagen dreißig Menschen im Publikum sitzen, ihm ging es nie um den großen Applaus. Aber worum dann? Ja, worum eigentlich? Robert sieht durch das offene Dachfenster zu Marie hinunter. Die beachtet
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