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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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schlimme Verletzungen hat er nicht, nur eine blutige Schnittwunde an der Stirn, da hat ihn ein Ast erwischt, trotz der Verglasung des Führerhäuschens. Der Vogelmann wühlt die kleine Notfalltasche aus dem Seitenfach hervor, desinfiziert die Wunde und klebt dem Jungen ein Pflaster auf die Stirn, seine Augen sind wie die des Mädchens, ganz genau gleich.
    »Da hast du noch mal Glück gehabt«, sagt er. Jules nickt mechanisch und bemüht sich, aus dem Sitz und auf die Beine zu kommen. »Bleib lieber noch sitzen, bis du ein bisschen runtergekommen bist.« Jules schüttelt den Kopf und befreit sich aus dem hypnotischen Blick der Schlange, windet sich an den gefiederten Armen des Vogelmanns vorbei und stolpert über den Platz. Da ist nichts mehr, kein Mensch auf dem Boden, keine Bretter. Da stehen die Übriggebliebenen wie Gespenster vor den Häusern und starren zur Linde, da streicht jemand zärtlich über das Fachwerk, und ein anderer trägt verstohlen sein Geschirr in Richtung Kofferraum. Jules stolpert ins Haus, er geht nicht mehr raus, nie mehr geht er hier vor die Tür.
    David hat einen Weg gefunden, er klettert die Rathausfassade hinunter und er kann sich dabei das Genick brechen.
Schlimmer wäre jedoch, es gar nicht erst zu versuchen. Hoffentlich verrät ihn keiner von denen, die seit der Verkündung immer mal wieder beunruhigt aus dem Fenster blicken, ob noch was da ist vom Ort. Jeremias hat ihm eben schon zugenickt, und Marie zeigt ihm den Daumen, während Eleni ihn durch die beschlagene Fensterfront der Bäckerei traurig anlächelt; Robert filmt ihn, warum auch immer. Sie werden ihm nicht helfen, aber verraten werden sie ihn wohl auch nicht. Als sich die Rathaustür öffnet, kauert David sich auf den Boden, versteckt sich hinter dem Löwen, der schweigt und wacht. Er ist ganz und gar auf Davids Seite.
    »Da kommt jemand«, sagt der Vogelmann, und tatsächlich steuert ein erschreckend großer und kräftiger Mann mit braunem Rauschebart auf sie zu.
    »Martin Wacholder, ich bin hier der Bürgermeister«, sagt er und streckt ihnen seine Pranke entgegen. Sie sind sich nicht einig, wer die Hand zuerst nehmen soll, und so grüßen sie beide unförmlich mit einer Art Winken, und der Bürgermeister steckt die Hand wieder weg, zurück in die Hosentasche. »Was da gerade geschehen ist«, sagt Wacho. »Es wäre gut, wenn Sie das vergessen könnten.«
    »Ich bezweifle, dass das möglich ist«, sagt der Schlangenmensch.
    »Das ist auch eine Versicherungssache«, sagt der Vogelmann.
    »Das geht auf den Ort«, sagt Wacho und seufzt. »Dafür werden wir schon irgendeine Versicherung haben, ich habe ein ganzes Regal voll mit Ordnern.« Und dann sagt er, ohne Luft zu holen: »Wollen Sie sie sehen?« Die beiden schütteln die Köpfe. »Gut«, sagt Wacho. »Wir sind alle ein wenig durcheinander, verstehen Sie? Der Junge wäre vor ein paar Wochen nie auf solch eine hirnverbrannte Idee gekommen, das steht fest, ich hoffe, Sie glauben mir. Wir sind alle eigentlich ganz normal.« Er verkneift sich ein Versprochen.
    »Ich hoffe, Sie haben recht«, sagt der Schlangenmensch, »Sie sollten trotzdem gut auf ihn aufpassen.« Wacho tut so, als müsse er schmunzeln. Er führt es nicht für die Salamanders, dieses Gespräch mit den Gelbhelmen, das ist alles für seine Frau. Wacho spürt, wie Anna ihn beobachtet. Sie will wissen, dass er gut ist, obwohl die Sache mit David gerade schiefgeht. Wenn er sich Mühe gibt, dann kommt sie zurück, der Baum hingegen, der liegt darnieder. Mit dem Baum kann Wacho sich von nun an nicht mehr identifizieren. »Man sieht sich«, sagt Wacho und geht zurück über den Platz, die weiße Treppe hinauf, fährt mit einer Hand über den Kopf des Löwen, der knurrt, und dann tritt er in das glühende Arkadien seiner sonnengelben Garderobe.
    Robert klappt seine Kamera zu und schließt das Fenster. Neben dem Löwen am Fuß der Rathaustreppe hockt David immer noch am Boden.
    »Nun mach schon«, murmelt Robert. »Jetzt oder nie.« Und tatsächlich richtet David sich vorsichtig auf und rennt in Richtung Friedhof. Robert findet, David sieht aus, als laufe er um sein Leben, und Robert sieht eilig hinüber zu Marie, die an dem kleinen Schminktisch sitzt und sich im fast gänzlich erblindeten Spiegel mustert. Es gibt nicht viel, was ihn so beruhigt wie der Anblick seiner Tochter. Nur Rauchen ist besser.
    »Ich werde eines Tages noch großartiger sein«, sagt Marie. »Und dann werde ich Jules zu meinem Mann nehmen und eine

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