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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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ihn nicht, die spielt, der Totenkopf sei ihr sprachbegabtes Baby, solche Sachen stellt sie sich gern vor, Marie weiß genau, was sie will.
    Robert wollte ein Haus, eine Familie, Zufriedenheit. Er wollte mit dem Rauchen aufhören, mit der Rechthaberei und vor allem mit seinem Selbstmitleid, und da steht er nun auf dem Dach und überblickt nichts weiter als eine untergehende
Welt. Das kann nicht alles sein. Aber was, wenn das doch alles ist? Wie bezeichnet man die Krise, in der er sich gerade befindet? Für Midlife ist es zu früh, Pubertät hatte er schon. Robert will heulen und schreien und sich vom Dach stürzen und das als Zeichen gegen alles da unten verstanden wissen, gegen diese Untergangsmachenschaften. Robert will den Bewohnern und den Verantwortlichen ein Ausrufungszeichen sein, wie er sich noch nie auf einer Bühne als Zeichen behauptet hat. Aber Robert ist ein glücklicher Mensch, so insgesamt, warum also sollte er springen?
    Drüben auf dem Dach der Nummer dreizehn taucht Mona auf und winkt ihm mit beiden Armen zu, und Robert winkt zurück und wünscht sich mit einem Mal, Mona helfen zu können, aus ihrer verqueren Unförmigkeit, aus der brillenlosen Hornhautverkrümmung, die sie jetzt das Leben kosten kann. Er könnte mit ihr in den Nachbarort fahren und die Brille reparieren lassen, aber er hat so viel zu tun, das Stück ist eine unendliche Aneinanderreihung von Akten.
    Robert will auch Jules helfen mit dessen Getue und Geleide und seinem eindeutigen Zu-jung-Sein, der Abstand zu seiner Zwillingsschwester wird immer größer. Und Robert will David helfen, dem ohnehin und schon seit langem und jetzt ganz besonders, wo Wacho kurz vor dem endgültigen Wahnsinn steht und David in Gefahr ist, das definitiv. Aber Robert kann nichts tun, was soll er schon machen, er kann nur beobachten, kann berichten und anklagen in seinem großen Proteststück, dem größten aller Zeiten.
    Wie Greta auf das Nebenkapellendach gekommen ist, weiß keiner, das hat doch fast einen Fünfundsechzig-Grad-Winkel, das Dach ist aus Wellpappe, warum bricht Greta nicht ein? Übt Greta für die Kreuzpolitur oder befindet sich Robert in diesem Film mit den Engeln, mit den Engeln vor der grauen Stadt, er erinnert sich: Selbst die Engel waren grau. Wenn das alles nicht echt ist, was ist in einer solchen Welt dann ein Schauspieler?
    »Robert?« Und jetzt stolpert Clara neben ihn, und da sitzen sie zusammen auf dem Dach, überblicken ihren Lebensplan, Praxis, Zuhause und hinter ihnen, im Zimmer, das Kind und Roberts Selbstverwirklichungstheater. Als Clara seine Hand nimmt, zuckt er zusammen. Das letzte Mal hat sie die Hand nach der Verkündigung im Tore so fest gedrückt.
    »Du wolltest doch nicht etwa?«, fragt Clara, und es macht ihn stichartig glücklich, dass sie so heiser klingt.
    »Ich wollte nur mal gucken«, sagt er, »und rauchen und sehen, was ich fühle bei alldem.«
    »Und«, fragt sie, »was fühlst du?«
    »Ich weiß nicht. Oder vielleicht, ja, vielleicht dich. Du bist mir da reingeklettert in die Gedanken. Ich weiß nicht, was sonst, sonst ist da nichts, fürchte ich. Ich habe an Meise gedacht vorhin.«
    »Meise?«, fragt Clara und beginnt schon beim Fragen nachzudenken, das hört er, das kennt er, das ist genau sie, diese pragmatische Gleichzeitigkeit von Fühlen und Wollen und Denken und Sehnen. Manchmal ist das zu viel für ihn. Clara ist manchmal zu viel für ihn, aber so ist das, das macht nichts, das gehört dazu, er hat sich entschieden und dazu wird er stehen, natürlich, das ist ihm jetzt klar.
    »Meise war doch dieser Typ, der dich mal in den Fluss geworfen hat, oder?«
    »Nicht nur das.«
    Sich so einfach hier runterstürzen, das geht doch nicht, was richtet sie an, Greta will niemanden schockieren. Damit scheidet auch der Giftcocktail aus, das kann schiefgehen, zum Beispiel wenn Marie überraschend zu Besuch kommen sollte und die sprudelnden Reste trinkt. Greta klettert vom Dach, angelt mit dem Fuß nach der obersten Leitersprosse. Wenn Ernst sie jetzt sehen könnte, das Herz würde ihm und so weiter und so fort. Greta kommt heil am Boden an. Sie hat Hunger, sie wird sich etwas kochen. Sie wird das Kreuz polieren, nicht wie
sonst im April, sondern kurz vor dem Jahrhundertfest, damit es glänzt, ein letztes Mal, wenn sie feiern; wenn das Fest tatsächlich stattfindet. Aber bis dahin ist noch viel Zeit.
    Der Abstieg zurück ins Zimmer ist nicht einfach, und Jules hat neben der Wunde an der Stirn nun auch noch was am

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