Bevor Alles Verschwindet
Knöchel, er ist dumm aufgekommen bei seinem Sprung ins Zimmer. Er beißt die Zähne zusammen und beißt sich dabei aus Versehen auf die Zunge, das tut scheißweh, aber er hat keine Zeit, sich darüber zu ärgern. Jula ist anscheinend durchgedreht, und es ist seine Aufgabe, sie vor Dummheiten zu bewahren.
Vor der Küchentür erwischt ihn sein Vater, hält ihn am Ärmel fest. Wahrscheinlich spürt auch Jeremias, wie die Dinge ins Schlingern geraten.
»Sag mal, was ist hier eigentlich los?« Jeremias' Blick wechselt von durchdringend zu ratlos. »Und was um Himmels willen ist mit deiner Stirn passiert?« Jules schüttelt den Kopf. »Du solltest bei Clara vorbeigehen, vielleicht muss da was gemacht werden.« Jules kommt aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr raus, und Jeremias nimmt das hin: »Komm in die Küche, ich habe Tee aufgesetzt, wir unterhalten uns jetzt endlich mal. Ich bekomme dich ja in letzter Zeit gar nicht mehr zu fassen. Und wo ist Jula, sag mal, was ist eigentlich mit deiner Schwester los?« Jules sieht zur Tür.
»In zehn Minuten bin ich wieder da, dann trinken wir Tee«, ruft Jules, schlüpft in seine Gummistiefel und rennt los, über den Hauptplatz, am Fuchs vorbei, die Straße hinauf zur Baustelle.
»Aber versprochen, ja? Versprochen, Jules!«, ruft hinter ihm sein Vater, dem schon lange nicht mehr zugehört wird.
Es wird bereits dunkel, seit mindestens einer Stunde haben die Gelbhelme Feierabend. Jula hat gewartet, bis die Baustelle verlassen ist. Jules stolpert die holprige Zufahrt entlang, fällt
fast über ein Kabel, das sich aus dem Nichts heraus über den Weg schlängelt. Vielleicht wird er morgen tatsächlich in der Praxis vorbeischauen, nicht wegen der Wunde an der Stirn, die ist bis dahin längst verschorft, sondern wegen des stechenden Schmerzes im Knöchel, ganz schön bescheuert, ausgerechnet Gummistiefel anzuziehen.
Er und Jula hatten eine verletzungsfreie Kindheit, abgesehen von ein paar Beulen. Nie haben sie sich etwas gebrochen, nicht mal verstaucht, und das, obwohl beide sich eine Zeitlang einen Gips wünschten, auf den sie sich gegenseitig mit Filzstiften Botschaften schreiben konnten. Einmal hatten sie Windpocken, sie hielten sich gegenseitig vom Kratzen ab, später dann eine schwere Grippe, verbunden mit einer Nacht im Krankenhaus. Eigentlich ist nur Jula richtig krank gewesen, aber Jules hat sich nicht zurückhalten lassen, selbstverständlich musste er mitkommen. Es gibt nichts, was sie voneinander verpasst haben, und nun ziehen sie sich seit kurzem auf ihren getrennten Wegen eine Verletzung nach der anderen zu.
Jula ist unten in der Baugrube, ein Schlund tatsächlich, jedenfalls von hier aus gesehen. Jules entdeckt sie, als er oben am Absperrgitter ankommt, er reißt sich zusammen, er ruft nicht nach ihr. Sie sucht etwas, befühlt die Wände der Grube. Sie benimmt sich wie eine Archäologin und sie fehlt ihm hier mehr als nachts im Bett oder tagsüber, wenn er den Lieferwagen ausparkt und noch einen schnellen Blick durchs Fenster der Bäckerei wirft, bevor er sich auf den Weg nach außerhalb macht. Jula verschwimmt da unten im gelben Licht der Sicherheitslaternen, die rund um die Baugrube an den Zäunen entlang aufgehängt sind. Alles schimmert unwirklich im Lampenschein, es ist schön und unheimlich und Jules hat das Gefühl, es sei eine andere Welt, die da unten leuchtet, zu der Jula gehört und zu der er keinen Zugang hat. Hat er nicht, muss er aber, und genaugenommen ist das da drüben eine stinknormale Baustelle.
Er kann das, natürlich kann er das, da runterspringen, von dem Zaun, trotz seines Fußes, es wird schon gehen. Jules hat es noch nie ausprobiert, aber er geht davon aus, hart im Nehmen zu sein. Also springt er und schreit laut auf, und Jula schaut zu ihm hoch und der Bann ist gebrochen, die Lampen können ihm nichts und auch nicht das merkwürdige Schweigen der Welt auf dieser Seite des Bauzauns. Das alles hier ist schlicht und einfach und besiegbar.
»Was machst du da?«, ruft Jula, sie macht keine Anstalten, zu ihm zu kommen. Als er nicht antwortet, widmet sie sich wieder ihren archäologischen Studien oder was immer sie da unten tut. Jules humpelt zum Rand der Baugrube, er setzt sich auf den Rand und rutscht die Schräge ins Innere der Erde hinab.
»Na endlich«, sagt Jula und: »Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.« Sie streckt ihm ihre Hand hin, er nimmt sie und im nächsten Moment steht er wieder und sie lässt seine Hand los. »Ich
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