Bevor Alles Verschwindet
öffnet die Augen. Milo ist da, ohne Wunde auf der Stirn, ohne blaue Flecken, so gesund, wie David gehofft hat.
»Wo warst du denn?«, fragt David, aber Milo antwortet nicht, er weiß nichts, was David nicht auch weiß. »Ein bisschen Zeit haben wir«, sagt David, und Milo nickt und legt sich zu ihm. David breitet die Decke über sie beide, er ist ungeschickt dabei und Milos Körper ist ganz kalt, aber so ist es besser, viel besser als allein in seinem Zimmer und mit Wacho vor der Tür. Sie sollten jetzt schlafen, dann ist es einfacher, das zu glauben, das mit Milo, das, was sich nach Leben anfühlt. Er wird es sich holen, gerade so viel, dass es weitergehen kann.
Marie schläft unter dem Mobile der schiffbrüchigen Piraten, im Minutentakt streift das bunte Kinderlicht über ihre Decke. Robert nimmt ihr den Totenkopf aus dem Arm, der erinnert mittlerweile an eine dieser Bilderbuchfeen, für sein Stück kann er ihn so nicht mehr gebrauchen, es sei denn, er zieht den Bauhelm ganz tief über die glitzerbesternte Stirn.
»Schlaf schön«, flüstert Robert, schiebt die Tür an. Er ist sehr froh, dass er sich heute keine unendliche Geschichte ausdenken muss.
Wenig später steht er mit Clara im Bad vor dem Spiegel. Sie blicken über Kreuz einander ins Gesicht, das halten sie eine Sanduhr lang durch.
»Wie war dein Tag?«, fragt Clara vorsichtig, Robert setzt ein Grinsen auf, den Mund voller Zahnpastaschaum, und Clara
fragt nicht weiter. »Bei mir war es heute ziemlich ruhig, mit der Grippe scheinen wir durch zu sein. Dafür hatte ich einen verletzten Bauarbeiter«, nuschelt Clara und spuckt aus, sie hält den Mund unter den Wasserstrahl, obwohl sie seit ein paar Jahren Zahnputzbecher besitzen, macht sie das so. Robert wartet, er mag das Gefühl nicht, diesen aufgeblähten Mund, der sich anfühlt, als könne er jeden Moment platzen. Clara taucht wieder auf, und während Robert sich den Mund ausspült, sieht sie sich prüfend im Spiegel an. Sie ist schön.
»Der Bauarbeiter, das war ganz merkwürdig. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er Angst hat vor mir.« Robert hebt den Kopf und betrachtet Claras Spiegelbild.
»Wie kann man vor dir Angst haben?« Clara beginnt, sich das Gesicht mit der verheißungsvollen Nachtcreme einzureiben. Robert ist fasziniert von diesem Vorgang. Wie lange man brauchen kann, um ein derart schmales Gesicht zu bearbeiten. Die Creme verspricht, dass der Teint länger frisch bleibt und über Nacht sogar erneuert wird. Eine unheimliche Vorstellung: Da liegt er nachts mehr oder weniger friedlich schlafend neben seiner Frau und der wird währenddessen das Gesicht erneuert. Vielleicht kann man doch Angst haben vor ihr.
»Ich weiß nicht«, sagt Clara. »Manche Menschen haben ja grundsätzlich Angst vor Ärzten, das muss nichts mit mir zu tun haben. Aber der Bauarbeiter, der war schon sehr speziell ängstlich.«
»Was hatte er denn?«
»Das sah ganz merkwürdig aus, höchstwahrscheinlich eine Bisswunde.«
»Seltsam.«
Clara bürstet sich ihr Haar. Es ist blond, sandblond gefärbt, Clara sieht sehr schwedisch aus. Oder norwegisch oder dänisch oder so. Wie sehen eigentlich Finnen aus? Robert streicht ihr übers Haar, er blickt in den Spiegel, als er das tut, und trifft zuerst nicht ihren Kopf, sondern ihre Nase.
»Was machst du?« Clara lächelt in den Spiegel und dann ist sie fertig: »Kommst du?«
Sie gehen ins Bett, es muss neu bezogen werden demnächst, es riecht ein bisschen zu sehr nach ihrem gemeinsamen Geruch, aber sonst ist es gemütlich in ihrem Doppelbett, der ersten größeren gemeinsamen Anschaffung vor zehn Jahren. Rücken an Bauch liegen sie da, durch die Gardinen fällt das Licht einer übrig gebliebenen Straßenlaterne.
»Hast du hier geraucht?«, fragt Clara.
»Nein«, sagt Robert, und dann streckt er die Arme nach ihr aus. Er riecht die Erneuerung an ihrem Hals. »Bist du müde?« Clara dreht den Kopf, sie küssen sich. Ihre Münder schmecken so kurz nach dem Zähneputzen ganz gleich, aber Clara benutzt vor dem Schlafengehen einen Lippenbalsam mit Vitamin E, ihre Lippen sind ihm vertraut, er küsst sie gern und sie ihn, wenn auch selten. Clara dreht sich ganz zu Robert um, schiebt die Hand unter die Decke und bis unter den Bund seiner Schlafanzughose. Ihre Hand ist kalt, dabei steht die Heizung wie immer nachts auf zwei, die Raumtemperatur beträgt achtzehn Komma fünf Grad. Sie schlafen miteinander und sie macht die Geräusche, die ihm zeigen, dass es ihr
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