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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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    »Mir geht dieser Bauarbeiter nicht aus dem Kopf«, flüstert Clara danach, und dann dreht sich jeder auf seine Seite und sie schlafen ein.
    David
Vier Monate
    Den Weg bis zu ihrem gemeinsamen Haus kann er mittlerweile mit geschlossenen Augen laufen. Er hat es ausprobiert, vor einer Woche, vorgestern, wann auch immer. Weicher Frühlingswind schleicht seit ein paar Tagen um die Stelle, an der vor wenigen Wochen noch das vergessene Waldstück war. Von den letzten Bäumen sind nur die Stümpfe übrig geblieben. Was ist das mit dem Frühlingswind, warum erinnert der sich, der ist doch eigentlich jedes Jahr neu, dieser Wind, dachte er immer, aber anscheinend ist das nicht so. Ein Wind mit Gedächtnis, ein Lücken lassender Wind, der hier nie wieder einen Widerstand spüren, der sich an nichts mehr entlangtasten kann, bis er dann auf David stößt. Der wirft die Arme in die Luft, schwenkt sie hin und her, atmet tief ein. Er vermisst die Blätter, die Äste, die ersten Waldblumen, hier wächst nichts mehr, über diesen Boden werden bald Algen schweben. Eine seltsame Vorstellung ist das, und trotzdem geht es ihm gut, daran kann auch Wacho nichts ändern. So merkwürdig ist das alles, wie er selbst, so oft passen Innen und Außen nicht zueinander, aber trotz allem hat David Hoffnung seit einer Weile.
    Heute tritt er besonders fest auf, stapft Spuren in den aufgewühlten Boden. Bald werden sie die wieder platt walzen, vielleicht kann er es dann verstehen: das alles, bei dem er bisher noch relativ ungeschoren davongekommen ist. Aber demnächst werden sie sich auch diesem Haus widmen, mit ihren Bulldozern und Planierraupen, mit der schweren Kugel, notfalls mit Dynamit.
    David läuft durch einen Wald ohne Bäume, das Haus immer im Blick, und auch Wacho blickt er seit kurzem in die Augen, damit der nicht merkt, dass David lügt, wenn er sagt, er sitze den ganzen Tag in seinem verschlossenen Zimmer. Das ist viel, das ist ein mutiger Blick, und wenn es dann zu warm wird für die Jacke, wenn David das Taschentuch nicht mehr unbeobachtet in seiner Anoraktasche drücken kann, dann muss er sich etwas anderes ausdenken. Dann müssen wieder die Nägel herhalten, dann muss er kauen, bis es blutet.
    Wenn er die Augen für eine Sekunde schließt, wird sich alles in Luft auflösen. Nicht nur das Haus, auch die Erinnerung eines Waldes und Milo sowieso, mit den Sägespänen im Haar, Milo, der schweigt, Milo, um den sich alles dreht.
    Davids Augen tränen, aber das macht nichts, das ist es wert, er läuft und läuft. Seit einer Weile spricht man nicht mehr wirklich mit ihm, man sagt nur noch »Morgen«; man sagt »'n Abend«; sagt »Ach du«. Sie sehen ihn an, wie sie Wacho mustern, sie denken, er ist verrückt. Aber auch das: Das ist es wert. Sie verpetzen ihn nicht, sie stellen sich vor ihn, damit er entwischen kann, ab und zu. Sie drehen ihm den Rücken zu dabei, aber sie helfen ihm, davonzukommen. Es ist doch merkwürdig, eine Merkwürdigkeit unter vielen, dass der drohende Untergang sie alle so knallhart aneinanderschleudern und gleichzeitig voneinander fernhalten kann. Das Problem: Man ist sich nicht einig, und die, die sich einig sind, die sind es, weil sie keine Meinung haben. Wenn David am Tore vorbeiläuft, sieht er sie drinnen sitzen, eng beieinander, aber niemand spricht ein Wort. Alle sind sie da, aber die Worte scheinen ihnen zu fehlen. Was soll man auch sagen außer immer wieder »Bitte nicht!«.
    Wacho hat eine gute Phase, seit es wärmer geworden ist, seit die Sonne ab und zu scheint, seit David nicht mehr von Milo spricht. David arbeitet sogar wieder ab und zu. Wacho öffnet dann die Tür, deutet zur Treppe. Gemeinsam gehen
sie ins Tore, dort hat Wacho seinen Sohn ständig im Blick, und sie brauchen Davids Gehalt, weil sonst kein Essen auf den Tisch kommt und weil der Wirt sie nicht mehr anschreiben lässt.
    David macht seinen Job gut, immer noch. Sie geben ihm mehr Trinkgeld als früher, sie verhalten sich wie Urlauber am Tag vor der Abreise, als wollten sie eine fremde Währung loswerden. Der Wirt klopft David auf den Rücken, er sagt »Bist 'n Guter«, sagt »Lass dich nicht unterkriegen«, und er besteht nicht darauf, dass David Wacho die Getränke bringt, aber David tut es, und dabei behandelt er Wacho wie jeden anderen. Er bringt ihm die Schnäpse, das Bier, und Wacho schweigt, Abend für Abend, und malt sich Dinge aus, die sein könnten.
    »Seht euch die Traufe an«, hört man immer wieder jemanden rufen. Die

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