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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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Traufe ist tiefer geworden, auf einmal tosend, obwohl die Mauer ihr mehr und mehr den Zufluss absperrt, ist die Traufe angeschwollen. Der Fluss ist ihnen fremd, sammelt Wassermassen aus dem Nichts, er schluckt jeden Regentropfen. Er wehrt sich gegen sein Verschwinden, bäumt sich auf, den Eindringlingen entgegen oder dem Ort, man kann es nicht genau sagen. Was soll's, denkt David bei sich, solange er und Milo zusammen sind, nimmt er viel in Kauf. Und da ist es, das kleine Haus. Er ist angekommen.
     
    Greta hofft darauf, dass die anderen sie über die eigenen Sorgen langsam vergessen werden, das tut sie wirklich. Ihr Plan ist, jegliches Interesse an ihr versiegen zu lassen. Daher ist es wichtig, dass ihr Abgang erst nach dem Aufstieg, nach der Reinigung des Kreuzes stattfindet. Sie kann warten, sie hat genug zu tun, aber sie ist auch in jenem Alter, in dem die Jahre wieder zu Jahren werden und man jede Minute wahrnimmt. Anders gesagt: Greta wird die Zeit lang, und während andere auf dem unsichtbaren Zeitstrahl weiterwandern, kann Greta
nur stehen und warten, bis der richtige Punkt auf sie zurollt.
    Den Laden an der Ecke haben sie am vergangenen Samstag geschlossen. Mit Brettern haben sie die Tür vernagelt, als wäre das nötig, als würde sich an diesem ausgedienten Platz noch jemand einnisten wollen. Der Weg durch den Ort hat sich verändert, für Greta macht er keinen Sinn mehr. Man kann hier nichts tun und an der nächsten Ecke auch nicht, nichts jedenfalls, was man zu Hause nicht auch tun könnte. Eigentlich kann man nur noch ins Tore gehen, aber Greta trinkt nicht und sie will mit niemandem sprechen und schon gar nicht gemeinsam schweigen.
    Trotzdem läuft sie jeden Tag ihre Runde, geht am Laden vorbei, grüßt Robert, der rauchend am Fenster steht. Greta wandert hinunter zum Hauptplatz, zu meiden sind das Modell und das große Plakat. Gegrüßt wird, wer auch immer ihr entgegenkommt, sie nickt selbst den Gelbhelmen zu, so viel Anstand besitzt sie: Grüße deinen Feind, er wird sich wundern. Greta spricht jeden auf das Jahrhundertfest an, fragt, was wer dazu beitragen möchte. Die meisten haben keine Ideen und Greta stört das nicht, sie will nur, dass das Fest nicht vergessen wird. Greta prägt sich den Ort ein, sie nimmt Abschied von Überbleibseln, sie hätte sich früher verabschieden sollen, bevor alles anders wurde, aber das hat sie verpasst.
    Heute ist Greta verabredet. Sie braucht Streuselkuchen für diese Verabredung, und in der Bäckerei arbeiten sie noch. Die Bäckerei, dank einer Verfügung, wird noch eine Weile weiterbetrieben. Trockensten Streuselkuchen also, am besten vom Vortag. Greta hat ein Treffen mit zwei Verantwortlichen vereinbart. Sie will Genaueres über die Versiegelung des Friedhofs erfahren. Greta muss herausfinden, wie viel Zeit ihr noch bleibt.
     
    Ein Löwe fletscht die Zähne im Schlaf, bildet sich Wut ein in seinem steinernen Hirn. Wie kann ein Haus gut sein, das zur Begrüßung die Zähne bleckt? Vielleicht aber braucht ein Haus, einsam im Wald, gefletschte Zähne, damit die Bewohner sich geborgen fühlen. Wie auch immer: Milo hat das Haus Zutritt gewährt, und weil David mit Milo gekommen ist, lässt das Haus auch ihn herein. Ein Haus mit Zähnen, denkt David, wird sich auch einem Bulldozer widersetzen, vielleicht einer Abrissbirne und sogar einem See.
    Das rostige Tor hat einen Hieb abbekommen, als sie die letzten Bäume abgeschleppt haben, ist ein Wagen dagegengestoßen, und einer der Gitterstäbe ist dabei gebrochen, aber das ist nicht schlimm, das Tor ist immer noch ein Tor, und seit dem ersten Tag markiert es die Grenze. David wartet einen Moment, bis er die Hand auf den Knauf legt, dann öffnet er es vorsichtig, er betritt das Grundstück, da ist Milo. Milo im löchrigen Pullover, in der zu weiten Jeans. Milo ohne Schuhe, als wären sie sonst wo. Könnte sein, dass Milo noch gar nicht bemerkt hat, wo er sich befindet, seit ein paar Monaten mittlerweile lebt Milo höchstwahrscheinlich im Nichts und baut sein Luftschloss mit rostigen Nägeln in den Wind.
    »Milo!«, ruft David durch die waldesleere Stille und die Erinnerung an rauschende Bäume, ein neues Rauschen kommt täglich näher, von der Baustelle. Über eine Entfernung jedenfalls, die nicht sein darf, ruft David nach Milo. Der ist damit beschäftigt, die Treppe zu bearbeiten, mit einem altmodischen Schleifgerät, das ganz ohne Storm funktioniert, was gut ist, denn Strom haben sie hier draußen nicht. David ruft,

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