Bevor Alles Verschwindet
Greis oder ein Kind. Mit sechs hatte er auch keine Ahnung von nichts, aber damals war das in Ordnung, da haben sie ihn dumm gehalten, und zwar mit Absicht, zur Sicherheit und nur zu seinem Besten. Sie haben ihn zusammen ins Bett gebracht, erst gab es eine Geschichte, dann ein Lied. Das große Licht dimmten sie mit dem Drehschalter, sie brachten ihn sanft in den Schlaf, er sollte nichts fürchten. Seine Mutter, wie sie am Morgen, wenn er in die Küche kam, dasaß mit der Hand an der Kaffeetasse, wie in einem amerikanischen Film saß sie da, denkt David. Aber vielleicht täuscht er sich, vielleicht stammen seine Erinnerungen tatsächlich aus einem Film. Sicher ist nur, dass Anna diesen merkwürdigen Blick hatte, der durch Wände ging, und durch David ging er auch, wie ein Fluss war dieser Blick. In der Küche hat er sich zu ihr gesetzt, er hat gesagt, er habe Hunger, und dann wurde sie wach und stellte die Augen scharf und sah ihn, sah ihn ganz fest an, ihren Sohn, und schenkte ihm ein todmüdes Lächeln.
Später schaute sie ihm hinterher, als er in Richtung des Schulbusses ging, seine Mutter folgte ihm mit dem Blick bis in die Stadt, so kam sie mit ihm davon, lange schon war sie in kein Auto mehr gestiegen, seit jener Nacht, seit dem Reh.
Die Ahnung ihres Verschwindens gab es schon immer, aber seine Eltern sagten ihm ständig und wie aus einem Mund:
»Alles ist gut.«
»Gut«, flüstert David. »Alles gut.«
Jules wandert von Haus zu Haus, er wirft die Nachrichten durch Briefschlitze, drückt sie jedem, den er trifft, persönlich in die Hand. Die Übriggebliebenen machen ihn nicht dafür verantwortlich, dass er die traurigen Briefe bringt. In den recyclebaren Umschlägen stecken die Informationen zu den Umbettungen, das spricht sich schnell herum. Fast jede Fami
lie bekommt einen, auch das Haus Salamander. Der Brief ist an Eleni adressiert. Jules fragt sich, um welchen Toten es darin geht. Zwei der Großeltern wollten nicht wiedergefunden werden nach dem Tod, sie schwimmen in irgendeinem Meer als Fische umher, sie ernähren sich von Algen und wissen, wo Schätze liegen, so jedenfalls hat Jula Jules das früher erklärt. Zu Jeremias' Eltern haben sie keinen Kontakt. Jeremias ist vor langer Zeit hierhergezogen und nichts in der Welt könnte ihn in sein altes Zuhause zurückzwingen. Das hat er früher ab und zu gesagt: »Nichts in der Welt bringt mich dahin zurück!« Jetzt sagt er so etwas nicht mehr, und Jules läuft die Treppe wieder hinunter, zum Küchentisch, schnappt sich den grauen Brief an seine Mutter und verstaut ihn in der Hosentasche. Er weiß nicht genau warum, er tut es aus Vorsicht.
»Der ist sehr gut«, sagt die Verantwortliche und schiebt den geblümten Teller weg, der Streuselkuchen darauf ist noch unberührt. Der Teller steht auf dem grauen Umschlag, den Jules Greta vorhin überreicht hat mit einem traurigen Blick, den Greta an ihm so noch nie gesehen hat. Greta setzt Ernsts dicke Brille auf, ein klitzekleines Stück Kuchen fehlt. Wenn alles richtig gelaufen ist, dann bleibt der kostümierten Frau die Trockenheit im Halse stecken, bis sie wieder in ihrem Büro sitzt, dann hat sie noch länger etwas von ihrem Besuch bei den Betroffenen. »Sie wollten mit uns über den Friedhof sprechen«, sagt der Mann, auf seinem Teller tanzen Englein. Mann und Frau haben es vermieden, sich Greta mit Namen vorzustellen, sie hat es bemerkt und über die Angespanntheit der beiden gelächelt, darüber, dass die es sich so schwermachen damit, das alles hier leichtzunehmen und nicht persönlich.
»Wann findet die Versiegelung statt?«, fragt Greta und macht dabei auf altes Ömchen, aber insgeheim ist sie wieder achtzehn und schwer verliebt in Ernst, den Jungen mit dem
kohlrabenschwarzen Haar und dem brachial roten Motorrad, das sie geradewegs in die wunderbare Welt hinauskatapultieren wird, so der Plan. Es muss in dem einsamen Haus stehen, das Milo und David in Beschlag genommen haben. Wenn Greta sich recht erinnert, hat Ernst es dort irgendwann abgestellt. »Damit es in Sicherheit ist und in Schuss, wenn wir es noch einmal brauchen sollten«, hat er damals gesagt. Er hat gegrinst dabei.
»Was machst du?«, fragt Jula und wirft sich neben Jules aufs Sofa. Im Fernsehen läuft eine Sendung über Dinosaurier.
»Nichts«, sagt Jules, und Jula schaltet den Fernseher aus. Jules sagt nichts dagegen, ihn interessieren Dinosaurier nicht.
»Wir machen jetzt einen Plan«, sagt Jula, und »wenn es so weit ist,
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