Bevor Alles Verschwindet
Übriggebliebenen haben das Gefühl, auf jemanden zu warten, aber da kommt keiner mehr dazu. Jetzt erst wird ihnen klar, wie wenige sie sind, dass nicht viel übrig geblieben ist von ihnen und ihrem Zuhause. Nur noch ein paar Alteingesessene und einer, der nicht richtig zählt: dieser Milo im Hintergrund, neben dem Löwen auf der Treppe, reglos, als wäre auch er aus Stein. Dass er auch auf den Bildern ist, wird später niemandem auffallen.
Die Familienfotos vor den einzelnen Häusern sind schnell gemacht, und als sie Familie Schnee vor der Linse hat, gelingt es der Fotografin sogar, den grinsenden Schädel für einen Moment auszublenden. So entsteht ein gestelltes Bild uneingeschränkter Harmonie. Eben so eines macht sie auch von der Familie Salamander, mitsamt dem schönen Auftraggeber, der schönen Frau, den schönen Zwillingen. Nur das Haus ist nicht besonders schön, findet die Fotografin, das Haus dieser perfekten Familie liegt eindeutig im Sterben.
»Unseres ist als Nächstes dran«, sagt Jeremias, krallt die Finger in den schmutzigen Putz und presst die Zähne fest auf
einander, der Kiefer zeichnet sich ab, Maries Totenschädel, er findet sich auf jedem einzelnen dieser Bilder.
»Wann ist es soweit?«, fragt die Fotografin.
»Wenn es nach Papa geht, so schnell wie möglich«, sagt Jula und macht Anstalten, wieder ins Haus zu gehen.
»Ich bin noch nicht fertig«, sagt die Fotografin.
»Machen Sie schnell, ich hab noch was vor, eine Wand einreißen und ein Fenster einschmeißen oder was sonst so im Fernsehen kommt.« Die Fotografin lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, sie ist schon mit ganz anderen Familien fertig geworden.
»Bitte recht freundlich«, sagt sie und hält drauf und knipst und fragt sich, ob mit diesen Menschen alles gutgehen wird. Dass es hier Geheimnisse gibt, ist offensichtlich, und das Mädchen sieht nach jedem seiner bösen Sprüche den Jungen an, und die Eltern tun zufrieden und sind dabei wenig überzeugend. Die Fotografin interessiert das nicht. Sie möchte lieber die leeren Häuser fotografieren, die Spiegelung eines Straßenschildes im schlammigen Wasser einer Pfütze, die alte Frau auf dem Motorrad, die mit leuchtenden Augen sagt, sie lebe auf dem Friedhof. Bilder wie diese, von versteinerten Familien, erwartet man von einer sterbenden Ortschaft, und ein neuer Wolkenbruch kommt der Fotografin schließlich zu Hilfe.
»Das war's dann wohl«, sagt Jeremias und zieht den Kopf ein.
»Ich hab es dann auch«, sagt die Fotografin und verstaut eilig ihre Kamera. »Ich wünsche Ihnen viel Glück in dem neuen Zuhause«, sagt sie und lässt ihren Blick durch die Runde schweifen. Nur Vater und Mutter blicken zurück, die Zwillinge sind längst wieder nur für sich.
»Warum benutzen Sie keinen Filter?«, fragt Jeremias die Fotografin, aber die wendet sich zum Gehen, tut so, als höre sie ihn nicht.
Während er zurück ins Haus geht, erinnert sich Jeremias:
Er hat auch einmal fotografiert. Er ist kreuz und quer durch die Welt gereist, Expeditionen hat er sich angeschlossen, er ist an den Rändern von Kriegen entlanggeschlichen. Er hat Karawanen fotografiert und Eisbrecher, er hat in Gebüschen gelegen und sich aus Hubschraubern gehängt. Er hat sich ein Bein zertrümmert und es schrauben lassen, er hat es noch einmal versucht und es nicht geschafft. Jeremias hat eine Ausbildung gemacht zum Steuerfachgehilfen, eigentlich hatte er Architekt werden wollen, aber das hatte keine Zukunft, jedenfalls sagte man ihm das, und er hat sich verliebt, verlobt, verheiratet. Jeremias und Eleni haben das alte Haus ihrer Eltern geerbt, noch bevor die verstorben waren. Sie haben Dielen geschliffen und Wände bemalt, ein Zimmer war Marokko, ein anderes der Pazifik, afrikanische Masken an den Wänden der Flure, sie essen immer noch von den selbstgetöpferten Tellern der Indianer, und auf dem Dachboden präsentierten sie eine Zeitlang Jeremias' Abenteuer in Rahmen aus Treibholz. Sie waren insgesamt sehr glücklich, er ab und zu nostalgisch und Eleni manchmal aus unerfindlichen Gründen ganz plötzlich tieftraurig. Als die Zwillinge kamen, wurde es besser. Neben dem Trubel und der Müdigkeit blieb kein Platz für Nostalgie und traurige Geheimnisse, und seit Jules oben auf dem Dachboden wohnt, lagern die Bilder im Keller, blick- und wasserdicht verschlossen in den alten Expeditionskisten. Zum Umzug werden die Kinder die Kisten entdecken, hoffentlich werden sie fragen, was darin ist, weil die Kisten ganz und gar
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