Bevor Alles Verschwindet
Katalog eines Küchenanbieters.
»Hier kommt nichts weg.«
»Das sehe ich!«, brüllt Eleni und zeigt zum Fenster hinaus:
»Das sehe ich, dass hier nichts wegkommt!« Dann läuft sie aus der Küche.
»Wir haben doch einander«, sagt Jeremias leise zu sich. »Uns haben wir doch noch, oder nicht?«
Jula wird gleich den Vogelmann treffen, oben bei der großen Baustelle an der Mauer, die sich mittlerweile nicht mehr übersehen lässt. Am Sonntag sind seine Kollegen nicht da und keiner der Bewohner plant an diesem Tag eine Protestaktion.
Er wartet auf sie. Jula und der Vogelmann umarmen sich kurz, sie küssen sich nicht, sie stehen nur da und Jula sieht die Mauer empor.
»Da habt ihr wieder ganz schön was geschafft.«
»Leider«, sagt der Vogelmann, und er meint es ernst. Je näher die Fertigstellung rückt, desto intensiver sollte er sich mit der Suche nach einem neuen Job beschäftigen.
»Irgendwas findet sich immer«, sagt Jula. »Im Notfall hilfst du oben. Mein Vater sucht noch jemanden, der ihm ein albernes Türmchen auf sein neues Haus setzt.«
»Ich setze keine albernen Türmchen, nirgendwohin«, sagt der Vogelmann.
»Dann baust du eben ein Schwimmbad oder stellst Schaukeln auf. Es wird erwartet, dass man sich dort oben fortpflanzt.«
»Meinst du das jetzt konkret?«
»Nein«, sagt Jula erschrocken. »Blödsinn. Und ich gehöre ja eh nicht zu diesem neuen Dings.«
»Entschuldigen Sie«, sagt die Fotografin, die plötzlich neben ihnen aus dem Dunkel aufgetaucht, »aber könnte ich ein Foto von Ihnen beiden machen, das wirkt irgendwie ziemlich symbolisch.«
»Lass!«, ruft der Vogelmann, als Jula nach der Kamera greifen will. »Das hat keinen Sinn.« Aber Jula hört ihm nicht zu, sie will die Kamera von dieser blöden Kuh, sie wird die Kame
ra im Matsch zertreten, bevor die sie zur Symbolfigur stilisiert, zu jemandem, der sich mit der Gegenseite eingelassen hat. Solche Bilder von Jula darf es nicht geben. Und sie bekommt die Kamera tatsächlich zu greifen, aber mehr nicht, die Fotografin hält sie fest, die Bilder von dem stillen Jungen, den das Kind beschrieben hat, das heimliche Bild der alten Frau mit dem abwesenden Blick und den dunklen Absichten kann sie nicht hergeben. Sie könnten der Beginn einer großen Karriere sein.
»Geben Sie her!«, brüllt Jula, »das gehört Ihnen nicht!«, und die Fotografin brüllt nicht zurück, hält nur stumm die Kamera fest und gewinnt den Kampf, weil Jula loslässt, als der Vogelmann ihr etwas ins Ohr flüstert.
»Danke schön«, sagt die Fotografin. »Ich kenne deinen Namen, ich werde mich bei dir melden.«
»Tun Sie das«, faucht Jula, aber ihr Vogelmann schreitet ein.
»Lassen Sie das mit der Anzeige, ist ja noch alles heil.« Stumm hält die Fotografin ihm ihren Arm hin, eine blutige Kratzwunde zieht sich hinauf bis zum Ellbogen, trotz Regenmantel.
»Okay«, sagt der Vogelmann, »verstehe.«
»Wie schön«, sagt die Fotografin. »Und jetzt?« Der Vogelmann denkt nach. Jula hat sich bisher nicht gefragt, ob auch er Schwierigkeiten bekommen kann, weil er sich mit einer Einheimischen abgibt.
»Ich weiß was«, sagt er und setzt seinen Helm wieder auf. Die Fotografin versteht, nickt, Jula schüttelt den Kopf, sagt:
»Tu das nicht.« Er lächelt sie an, dann geht er mit der Fotografin davon.
»Hast du ein Glück«, sagt die Fotografin im Weggehen zu Jula.
»Sie«, sagt der Vogelmann, »Sie sollten sie siezen.«
Jeremias packt im Schlafzimmer die restlichen Sachen in seine Reisetasche. Morgen früh kommt auch der Schlafanzug dazu, die Alben nicht, bloß nicht. Eleni sagt, er solle die Familienbilder mitnehmen, aber dagegen wehrt Jeremias sich. Wer die Fotografien anstelle der Familie mitnimmt, der sieht diese nicht wieder. Vielleicht hat Eleni recht, vielleicht wird er tatsächlich zum Kind. Er kann sich zum Beispiel nicht vorstellen, wie er es überstehen soll, abends allein im Dunkeln zu liegen. Wie soll er für eine Person kochen, wie viel braucht man da und braucht man da überhaupt irgendwas? Er hat auch gar keine Lust, sich umzugewöhnen, es war schwierig genug damals, erst die Mengen für zwei einzuschätzen und dann plötzlich für vier. Am Anfang gab es immer zu wenig, jetzt fürchtet er sich vor dem Zuviel.
»Jules!« Sein Sohn setzt sich neben die Reisetasche aufs Bett. Jules hat überm Knie ein Loch in der Jeans.
»Fährst du schon?«, fragt er.
»Morgen nach dem Frühstück, ja. Was ist los, Jules?«
»Alles okay.«
»Erzähl mir
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