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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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nicht nach gewöhnlichen Restbeständen aussehen. Jeremias wird sagen, »Wisst ihr das denn nicht?«. Die Zwillinge werden den Kopf schütteln, und dann wird er erzählen, bis tief in die Nacht.
    »Ich komme nicht mit!«, brüllt Jula und reißt Jeremias aus seinen Gedanken.
    »Niemals!«
    »Jeremias«, ruft Eleni. »Jeremias, es geht schon wieder los!«
Jeremias liebt seine Erinnerungen, er hat nur eine vage Vorstellung von der Zukunft. Er fühlt sich wieder wie kurz nachdem er die Schule geschmissen hatte und nicht genau wusste, wofür. Jeremias küsst Eleni stürmisch, befördert sich mit dem übertriebenen Kuss endgültig aus seiner Erinnerungsnostalgie, dreht sie von der Treppe weg, damit sie ihn ansieht und nicht das zornige Kind, das da oben steht und alles genauso wenig weiß wie er, nur mit viel, viel mehr Wut im Bauch.
    »Was ist denn mit dir los?«, fragt Eleni.
    »Ich weiß nicht«, sagt Jeremias zwischen zwei sehr heftigen Küssen. »Aber vielleicht kaufen wir uns einfach ein Hausboot. Was meinst du? Das wäre doch was. Was denkst du, Jula? Ein Hausboot?«
    »Nein danke!«, brüllt Jula die Treppe hinunter. Dann verschwindet sie wieder in ihrem Zimmer, diese Urgewalt von einer Tochter, und Eleni und Jeremias fangen an, die Kisten zu packen.
    »Ein Hausboot, du hast sie ja nicht mehr alle«, sagt Eleni und lacht ausnahmsweise.
    »Ich meine das ernst«, sagt Jeremias. »Das könnte doch was sein.«
    »Und das neue Haus?«, fragt Eleni. »Die Infrastruktur, der Garten, das Türmchen, die Enten?«
    »Du hast ja recht«, sagt Jeremias. »Aber dann vielleicht später.«
    »Mal abwarten«, sagt Eleni und streicht ihm über das stopplige Kinn: »Das wird alles.« Jeremias küsst sie schon wieder, er kann nicht anders, er ist so froh, dass sie sich endlich abgefunden hat mit allem, dass sie mitkommt und ihn nicht verlässt.
     
    Greta macht eine Spritztour, sie muss aufpassen, hier wurden überall Kabel verlegt. Die Fotografin steht auf einmal vor ihr auf dem Weg, Greta bremst unwillig.
    »Entschuldigen Sie, dass ich störe, aber könnte ich noch ein Bild machen von Ihnen. Vor den Gräbern, mit Motorrad?«
    »Was denken Sie sich eigentlich? Hier aufzukreuzen und uns alle zu tragischen Figuren zu machen? Wir sind noch am Leben!«, ruft Greta, die schon seit Monaten überlegt, wie sie das in ihrem Fall ändern kann. »Wir leben doch noch!« Die Fotografin nickt, entschuldigt sich, sie stottert, und als sie weg ist, tut es Greta fast leid, sich so benommen zu haben, das hätte Ernst nicht gefallen. Vielleicht wird es Zeit, wieder zur Ruhe zu kommen.
    Im Juni putzt sie das Kreuz, ausnahmsweise nicht im April, danach kommt das Fest und dann, dann ist sie wieder bei Ernst. Greta begegnet dem klapprigen Touristenbus, den irgendein Veranstalter auf Reisen geschickt hat, um den Ort zu durchqueren. Greta winkt den sieben, acht Menschen zu, die sich an den Fenstern die Nasen platt drücken, um im letzten Abendlicht noch etwas zu erkennen. Der Busfahrer stammt aus dem Nachbarort hinter dem nächsten Hügel und vielleicht erzählt er gerade irgendeine Geschichte über Greta. Die Blicke der Schaulustigen werden weich vor Mitleid, jemand klopft an die Scheibe, lächelt, und Greta wartet, dass man ihr Konfekt und Kondolenzschreiben zuwirft.
    Die Touristen können froh sein, an Greta geraten zu sein: Jules zum Beispiel hat einem Hobbyfotografen die Kamera zertrümmert und einen Kinnhaken verpasst. Und Robert, der gibt ungefragt Einblicke in sein neues Stück, bringt die sich schuldig fühlenden, höflich verweilenden Schaulustigen dazu, sich halbstündige Szenen anzusehen, und manchmal weint Robert dabei. Es ist nicht einfach, hier Tourist zu sein. Man gerät zu tief hinein. Dass die Reifen der Busse immer wieder zerstochen sind und eine Gruppe sich sogar auf eine Wanderung zurück in die Außenwelt begeben musste, weil keine Ersatzreifen zu finden waren und kein Funkgerät funktionierte und keiner der Bewohner mehr einen Telefonan
schluss hat, das rechnet Greta den Zwillingen zu. Erstaunlich selten kommt es zu einer Anzeige. Wahrscheinlich müssen die Touristen irgendeinen Wisch unterzeichnen, bevor sie in die Busse steigen. Dass sie mit allem einverstanden sind, keine Ansprüche stellen, sich vorsichtig verhalten und sich den Einheimischen nicht nähern werden, und wenn, dann auf eigene Gefahr. Greta gefällt die Vorstellung, nicht nur Mitleid zu ernten, sondern auch Angst und Schrecken zu verbreiten.
     
    Das gemeinsame

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