Bevor Alles Verschwindet
hört er Wachos Poltern, sein Fluchen. Es klingt wie eine Wirtshausschlägerei, dabei übt sein Vater nur.
Walzer kann er noch, den langsamen und den Wiener. Foxtrott fällt Wacho nicht mehr ein, nicht der Discofox, nicht der Rumba und nicht der Jive. Walzer muss reichen, Wiener Walzer steht ihnen gut, er wird seinen Smoking tragen und sie das lange Kleid und die hohen Schuhe. Später wird sie die Schuhe ausziehen und barfuß tanzen, er wird achtgeben, ihr nicht auf die Füße zu treten, er wird sie bei den Drehungen hochheben und für ein paar Sekunden durch die Luft fliegen lassen. Wacho hat einen Film gesehen vor ein paar Wochen, bevor er den Fernseher die Kellertreppe hinuntergeworfen hat, gegen die Stimmen und mögliche Eindringlinge. In dem Film haben sie in einem Ballsaal getanzt, und Wacho stand wacklig vom Küchenstuhl auf und ahmte die Schritte nach. Er will sie überraschen, wenn sie endlich kommt. Mit Kerzen überall, mit diesem Prunkfesttanz und damit, dass es von der Kellertreppe her nicht mehr zieht.
Das Stück ist so gut wie fertig, frühmorgens probt Robert die Details, die sind im Grunde genommen das Wichtigste. Er darf sich auf keinen Fall zur Lachnummer machen mit seinem Protest. Er muss die Aufmerksamkeit auf den Ort lenken, so kurz vor seinem endgültigen Verschwinden zumindest noch ein schlechtes Gewissen für die Außenwelt.
Robert würde sich über mehr Unterstützung freuen. Im
merhin hat Jules ihm geholfen, eine kleine Bühne am Rand des Hauptplatzes zu bauen, dort wird bis zum Jahrhundertfest niemand seinen Bulldozer abstellen, das haben sie ihm versprochen. Er hätte das Stück gern im großen Festsaal vom Tore aufgeführt, so wie immer, aber das Wirtshaus wird es am Tag der Premiere nicht mehr geben.
Für Robert ist es am wichtigsten, dass es am großen Tag überhaupt Zuschauer gibt. Heute wird Jeremias Salamander übersiedeln in den neuen Ort und ob er zum Sommerfest noch einmal zurückkommt, steht in den Sternen. Wer einmal geht, sagt man, kehrt nicht mehr zurück.
Clara hat versprochen, sich das Ganze bei Gelegenheit einmal anzusehen. Marie kommt jeden Tag vorbei, sie klatscht jedes Mal, mehr Rückmeldungen bekommt er nicht. Robert kennt es nicht anders, für die Weihnachtspantomime war das in Ordnung, so ganz ohne kritischen Blick von außen, aber er ist dabei, ein Proteststück zu inszenieren, das ist etwas anderes. Für die nächsten Monate und auch für die Premiere hat sich ein Fernsehteam angemeldet, sie wollen eine kleine Reportage drehen über den letzten Schauspieler. Immerhin. Und: Wie auch immer, er wird es aufführen, komme, was wolle, und wenn sie ihn danach in der Luft zerreißen – was soll's? Das alles hier wird ohnehin untergehen, es wird nicht seine Schuld sein, den Schuh zieht er sich nicht an. Er hat versucht, mit seiner Kunst etwas zu bewegen. Immerhin.
Robert wirft die Toga zurück, er bringt sich in Stellung, er hebt den Arm, gibt den Redner, er schweigt mit grimmigem Gesicht und wackligen Beinen. Wenn alles klappt, werden zu diesem Standbild die wichtigen Daten an die Wand geworfen (wenn es dann noch eine Wand gibt, sonst muss er improvisieren) und er wird sich erst wieder bewegen, wenn die Chronik beim Tag der Staudammeröffnung angelangt ist, und dann wird der Filmausschnitt kommen, der aus dem Winter, als Jules mit dem Bagger gegen die Linde gefahren ist, und dann
wird Robert brüllen und schreien vor Schmerz und anklagen und einmal noch alles geben. Danach wird er sich einen neuen Job suchen.
»Jula«, flüstert Jules ins Holz der verschlossenen Tür. »Jula.« Es dauert einen Moment, aber dann öffnet sie ihm.
»Was ist denn?« Sie ist schlecht darin, Gefühle zu überspielen, er kann das auch nicht.
»Kann ich reinkommen?« Sie tritt zurück, im Zimmer riecht es nach Schlaf. Am Himmel ist nur ein matter Streifen zu erkennen, dort, wo sich heute überraschend die Sonne ankündigt.
»Es ist früh«, sagt Jula.
»Ich weiß, aber ich glaube, wir müssen es jetzt machen.«
»Was?« Jules setzt sich zu ihr auf's Bett, zieht die Beine an, spuckt es aus:
»Den Plan.«
»Hast du ein Rad ab? Jetzt doch noch nicht.«
»Seinetwegen nicht?«
»Du bist so bekloppt. Wen meinst du?«
»Diesen Vogelmann, den Kerl, der gestern so getan hat, als würde er Milo den Kopf einschlagen. Den mit den Federn. Tu doch nicht so!« Jula sieht ihn fassungslos an, dann donnert sie ihm ein Kissen an den Kopf, sie wirft es nicht, sie schlägt auf ihn ein und
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