Bevor der Abend kommt
wehrt sich gegen ihre Fesseln und versucht verzweifelt, aber vergeblich zu schreien, während ihre Mutter nebenan ahnungslos Windeln wechselt.)
War das möglich?
Sie hatte gelesen, dass Mörder häufig an der Beerdigung ihres Opfers teilnahmen und ihre kranke Lust ausdehnten, indem sie sich in dem Leid der Familie suhlten.
War es möglich, dass solche Ungeheuer direkt nebenan wohnten?
Die Tür schwang auf, und Cindy trat über die Schwelle, gleichzeitig erleichtert und enttäuscht darüber, ein völlig gewöhnliches Zimmer vorzufinden, das schmucklos und zweckmäßig eingerichtet war. Cindy sah den unaufgeräumten Schreibtisch und den Stapel von Büchern und Architekturzeichnungen auf dem großen Zeichentisch vor dem Fenster und vermutete, dass Ryan den Raum als häusliches Arbeitszimmer benutzte. Schwarzweißfotos von lokalen Gebäuden schmückten die Wände. Cindys Blick schweifte in jede Ecke, ohne dass sie eine Spur von ihrer Tochter entdeckte. Hatte sie wirklich erwartet, irgendetwas zu finden?
Das Klingeln des Telefons piekte sie in den Rücken wie ein anklagender Zeigefinger.
Cindy stockte der Atem, als sie den Hörer abnahm, bevor das Telefon auf dem Schreibtisch ein zweites Mal klingeln konnte. »Hallo?«
»Cindy, hier ist Ryan«, sagte eine ruhige Stimme. »Tut mir Leid, aber ich habe jetzt zum ersten Mal Gelegenheit, Sie anzurufen. Wie läuft’s?«
»Alles bestens.« Cindy entdeckte den Kleiderschrank an der gegenüberliegenden Wand. Was bewahrten sie darin auf? »Faith und das Baby schlafen beide.«
»Das ist gut. Hören Sie, wir sind hier fast fertig. Wir sollten in absehbarer Zeit hier aufbrechen können. Meinen Sie, Sie halten noch ein paar Stunden durch?«
Cindy sah auf die Uhr. In ein paar Stunden würde es fast zwei Uhr sein. Ihr Blick kehrte zu der Schranktür zurück. »Kein Problem.«
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin.«
»Bis gleich dann.« Cindy legte auf, ging zu dem Kleiderschrank und öffnete die Tür.
(Bild: Julia sitzt, den Mund mit Isolierband verklebt, die
Hände hinter den Rücken gebunden und die Füße gefesselt, nackt und zitternd in einer Ecke des Kleiderschranks.)
In dem Kleiderschrank hingen frisch gereinigte und ordentlich in Kleidersäcken verstaute Wintersachen. Cindy begutachtete jedes einzelne Stück – ein schwerer brauner Herrenmantel, eine violette Fleecejacke, ein brauner, ein grauer und ein dunkelblauer Schurwollanzug, ein schwarzes Kleid, ein langer Rock. Sie ging die Pullover durch, die sich auf einem eingebauten Regalbrett stapelten, und zog ein stark duftendes Stück Seife zwischen den Wollschichten hervor. Als sie bemerkte, dass sie beobachtet wurde, war es bereits zu spät. Cindy fuhr herum, und die Seife glitt ihr aus der Hand und fiel direkt vor Faith Sellicks Füße.
Faith blickte mit kalten, stählernen Augen von Cindy zu dem Kleiderschrank und zurück zu Cindy. »Was zum Teufel machen Sie da?«, fragte sie.
28
»Faith. Ich hab Sie gar nicht gehört.«
»Was machen Sie hier? Wo ist Ryan?« Faith trat von einem Fuß auf den anderen, wobei ihre Zehen jeweils in dem weichen braunen Teppich versanken. Sie trug einen rot karierten Flanellschlafanzug, der ihr viel zu groß und für das Wetter viel zu warm war, obwohl ihr beides offenbar gar nicht aufgefallen war. Mehrere Haarsträhnen hingen ihr schlaff ins Gesicht, was sie ebenfalls nicht zu stören schien.
»Er musste nach Hamilton. Sie haben geschlafen. Er wollte Sie nicht wecken.«
»Also hat er Sie gebeten, rüberzukommen, um auf seine inkompetente Frau aufzupassen.«
»Nein, natürlich nicht. Er wollte bloß, dass Sie ein wenig Schlaf nachholen.«
»Um wie viel Uhr war das?«
»Gegen acht. Er hatte wohl einen wichtigen Termin …«
»Sie sind immer wichtig.« Faith blickte zum Fenster. »Wie spät ist es jetzt?«
Cindy sah auf die Uhr. »Fast Mittag.«
»Das heißt, ich war den ganzen Vormittag bewusstlos«, stellte Faith mit matter Stimme fest.
»Sie waren offensichtlich erschöpft.«
»Kyle …?«
»Schläft wie ein Baby«, sagte Cindy und hoffte vergeblich, mit einem Lächeln belohnt zu werden. »Ich habe ihn zweimal gefüttert und war mit ihm spazieren …«
»Sie waren ja sehr beschäftigt.«
Cindy räusperte sich und hüstelte in ihre Hand. »Haben Sie Hunger? Ich könnte uns etwas zu essen machen.«
»Sie können mir sagen, was Sie in meinem Kleiderschrank herumzuschnüffeln hatten.«
»Das tut mir wirklich sehr Leid«, sagte Cindy,
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