Bevor der Abend kommt
rapide aus der Flasche verschwand. Als sie leer war, hob Cindy Kyle über die Schulter und tätschelte seinen Rücken, bis sie ihn leise rülpsen hörte. »Du bist ein Prachtjunge«, murmelte sie und wiegte ihn sanft in den Armen, bis er eingeschlafen war.
Sie hatte die Säuglingsphase immer geliebt. Sie wusste, dass es vielen Frauen anders ging, dass sie es schwierig fanden, einen echten Bezug zu ihren Kindern herzustellen, bevor diese mit
ihnen kommunizierten, und vielleicht war Faith eine dieser Frauen. Wenn Kyle erst anfing, auf sie zu reagieren, würde sie möglicherweise aufhören, seine Ausbrüche als Beweis ihres eigenen Versagens zu deuten. Wenn Kyle sich im Laufe des Jahres erst aufsetzen und später versuchen würde, zu stehen, zu gehen und zu sprechen, würde sie begreifen, was für ein Wunder sie und ihr Mann gemeinsam geschaffen hatten, was für ein großartiges Geschenk ihnen gemacht worden war, und dann würde sie glücklich sein.
Aber so einfach war es nicht, und das wusste Cindy auch. Wenn Faith tatsächlich unter postnatalen Depressionen litt, ließen die sich nicht mit ein paar schlichten Plattitüden oder gesundem Menschenverstand lösen. Ein weiterer Fall von Amok laufenden Hormonen, dachte Cindy und fragte sich, ob Ryan ihren Rat befolgt und mit Faiths Arzt darüber gesprochen hatte, ihr stärkere Medikamente zu verschreiben.
Ich kann jedenfalls bestimmt nicht jedes Mal herbeieilen, wenn es ein Problem gibt, dachte sie und trug Kyle zurück nach oben in sein Kinderzimmer.
Warum nicht, fragte sie sich dann. Was habe ich sonst zu tun?
Cindy spürte unvermutet eine Träne über ihre Wange kullern und auf Kyles Kopf tropfen. Er rührte sich ein wenig, und seine winzige Faust reckte sich instinktiv in die Luft, als wollte er sich verteidigen. Cindy drückte ihn noch fester an ihre Brust, setzte sich in den Schaukelstuhl und begann, hin und her zu wiegen.
Kurz darauf war sie tief und fest eingeschlafen.
(Traum: Cindy läuft einen leeren Flur des Forest Hill Collegiate hinunter, wo sie zur Highschool gegangen ist, und sucht das Büro des Direktors. Es ist da drüben , erklärt Ryan ihr, der aus dem Nichts aufgetaucht ist und ihr in dem Flur entgegenkommt. Plötzlich steht Cindy vor dem Empfangstisch in der Mitte eines großen Büros. Ich suche Julia Carver , erklärt Cindy Irena, die so sehr damit beschäftigt ist, eine Herrenhose
zu bügeln, dass sie gar nicht aufblickt. Raum 113 , antwortet Irena knapp. Cindy rennt den Flur hinunter, vorbei an einem Trinkbrunnen, der wild in alle Richtungen spritzt, und platzt in Raum 113, wo ihr Blick über eine Reihe neugieriger Schülergesichter schweift. Wo ist Julia , verlangt sie von dem Gnom zu wissen, der vor der Klasse steht. Michael Kinsolving lässt sein Manuskript sinken und kommt drohend auf sie zu. Wer ist Julia , fragt er.)
Cindy schreckte hoch, wodurch auch der Säugling in ihren Armen aufwachte und zu schreien begann. »Alles in Ordnung«, versicherte sie ihm, während sie selbst wieder ganz zu sich kam und dankbar registrierte, dass das Baby wieder einschlief. Sie atmete tief ein, verlagerte behutsam Kyles Gewicht und sah auf die Uhr. Es war elf! Sie hatte fast zwei Stunden geschlafen. Sie vergewisserte sich, dass sie sich nicht verguckt hatte, und erhob sich mit weichen Knien und steifen Armen und Schultern aus dem Schaukelstuhl. »Diese Tabletten von Neil hatten es ganz schön in sich.«
Langsam und mit äußerster Sorgfalt legte Cindy Kyle in sein Bettchen, schlich aus dem Zimmer und schloss die Tür. Auf Zehenspitzen pirschte sie beinahe theatralisch zum Schlafzimmer, hielt ihr Ohr an die geschlossene Tür und fragte sich, ob Faith immer noch schlief. Nach einer Weile öffnete sie die Tür und betrat das Zimmer.
Drinnen war es dunkel und stickig, und ein Geruch wie Äther hing wie ein ungesunder Dunst in der Luft. Cindy tastete sich über den mit diversen Kleidungsstücken übersäten Teppich zu dem großen Eisenbett an der gegenüberliegenden Wand. Faith lag mitten im Bett auf dem Rücken, einen Arm achtlos über den Kopf geworfen, einen Fuß unter einem Stapel schwerer Decken herausgestreckt, den Mund offen, mit ausgetrockneten Lippen, denen ein leises Schnarchen entwich. Cindy strich ihr ein paar feuchte Strähnen aus dem Gesicht und schob ihren Fuß wieder unter die Decke. Wie oft hatte sie das
Gleiche für Julia getan? Wie oft hatte sie widerspenstige Zehen zugedeckt und widerborstige Strähnen beiseite gestrichen?
Lass das,
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