Bevor der Abend kommt
Dame.« In der hintersten Ecke des Kühlschranks entdeckte Cindy ein großes Stück alten Cheddar sowie mehrere offene Butterpackungen und einen ungeöffneten Karton Milch, deren Haltbarkeit am nächsten Tag ablief. Salz und Pfeffer standen deutlich sichtbar auf dem Tresen, aber
sie musste mehrere Schränke durchsuchen, bevor sie eine mittelgroße Schüssel und eine Bratpfanne fand. »Ich glaube, jetzt hab ich alles«, erklärte sie Faith, die schweigend am Tisch saß. Sie sagte auch nichts, als Cindy die Eier aufschlug, sie mit der Milch verrührte und in die Pfanne goss. Erst als Cindy den Cheddar hinzugab, zeigte Faith zum ersten Mal ein vages Interesse an ihren Bemühungen.
»Ich liebe Käse«, sagte sie noch einmal.
Sie aßen schweigend. Faith schnitt ihr Omelett in ordentliche kleine Stücke, die sie nacheinander bedächtig kaute und schluckte. Cindy sah ihr beim Essen zu und wünschte sich, dass sie die Frau bei den Füßen packen und ausschütteln könnte, als wäre sie ein Zweig von dem Ahornbaum vor dem Haus. Sie fragte sich, wie viele lockere Früchte oder Schrauben herabfallen würden und ob Faith etwas wusste, was sie ihr verschwieg.
Etwas über Julia vielleicht.
»Gibt es irgendwelche Neuigkeiten bei der Ermittlung?«, fragte Faith unvermittelt, als könnte sie Cindys Gedanken lesen. Sie legte die Gabel weg, schob ihren Teller in die Mitte des Tisches und lehnte sich, das Messer immer noch in der rechten Hand, zurück.
»Nein«, sagte Cindy. »Nichts Neues.«
»Das muss schrecklich für Sie sein.«
»Ja, das ist es.«
»Es gibt so viele schreckliche Dinge auf der Welt.« Faith nahm die Gabel, hielt sie vors Gesicht und musterte ihr Spiegelbild in dem schmalen Edelstahlstiel. »Ich sehe beschissen aus«, sagte sie.
»Nein, das stimmt nicht.«
»Wünschen Sie sich manchmal, dass Sie einfach ins Bett kriechen und nie mehr aufwachen könnten?«
»Faith …«, erwiderte Cindy, ohne zu wissen, was sie als Nächstes sagen sollte.
»Ich bin müde.« Faith schob ihren Stuhl zurück und erhob sich mühsam. »Ich glaube, ich leg mich besser eine Weile hin.« Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und schritt entschlossen aus der Küche. Erst als Cindy hörte, wie sie die Tür zum Kinderzimmer öffnete, wurde ihr bewusst, dass Faith das Messer mitgenommen hatte.
Cindy rannte die Treppe hinauf. Das Omelett lag ihr im Magen wie ein schwerer Stein und lähmte ihren Atem. Warum hatte sie nicht besser aufgepasst? Was, wenn es schon zu spät war?
Zu spät wofür?
»Faith!« Cindy rannte in den Flur. Faiths Pullover glitt von ihren Schultern. »Faith, warten Sie!«
In diesem Moment zerrissen die Schreie des Babys die Luft, gefolgt von Faiths gequältem Schluchzen. Beides zusammen ließ den Boden unter Cindys Füßen zittern wie ein starkes Beben.
»Nein!« Cindy stürzte ins Kinderzimmer und erstarrte bei dem Anblick, der sich ihr bot.
Faith Sellick stand über dem Bettchen ihres Sohnes und raufte sich mit einer Hand die Haare. Ihr Gesicht war eine einzige verzerrte Maske aus Trauer und Wut. Die andere Hand hatte sie auf die Brust ihres Babys gelegt, dessen winziger Körper sich entrüstet wand.
»Faith, nicht! Was haben Sie getan?« Cindy schubste Faith so vehement aus dem Weg, dass diese den Halt verlor, gegen den Schaukelstuhl taumelte und zu Boden fiel. Cindy hob das Baby aus seinem Bettchen und suchte panisch nach Blutflecken auf seinem weißen Strampelanzug. Aber da war kein Blut. Genauso wenig wie auf dem Laken oder sonst irgendwo, erkannte Cindy hörbar erleichtert und sah, dass das Messer unschuldig am Fußende des Bettchens lag. »Was ist hier passiert?«, wollte sie wissen, während Kyle laut weiterheulte.
»Ich habe nichts gemacht«, rief Faith hilflos. »Ich habe ihn
bloß angeschaut, und er hat die Augen aufgemacht und angefangen zu schreien.«
»Haben Sie ihn mit dem Messer gestochen?«
»Mit welchem Messer?«, fragte Faith sichtlich verwirrt.
»Sie haben ihn nicht angerührt?«
Faith schüttelte den Kopf und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. »Er hasst mich«, wimmerte sie. »Er hasst meinen Anblick.«
»Er hasst Sie nicht.« Cindy legte das schreiende Baby zurück in sein Bettchen und hockte sich neben Faith auf den Boden.
»Hören Sie doch.«
»Babys schreien, Faith. Das haben die so an sich.«
»Ich halte es nicht aus, wenn er schreit.«
»Ich weiß.« Cindy nahm Faith in die Arme und wiegte sie hin und her. Und sie wusste es wirklich. Es gab nichts
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