Bevor der Abend kommt
hatte Julia protestiert und selbst im Schlaf nach der Hand ihrer Mutter geschlagen.
Cindy war bereits auf halbem Weg nach unten, als sie das andauernde Bellen hörte und begriff, dass es von nebenan kam. Elvis! Sie hatte ihn vollkommen vergessen. Bellte er vielleicht schon, seit sie das Haus verlassen hatte?
»Ich sollte rasch nach Hause laufen und ihn herauslassen«, erklärte Cindy einem imaginären Richterkollegium. »Es dauert nur zwei Minuten.« Aber das stimmte nicht. Weil man Elvis nicht einfach herauslassen konnte. Man musste ihn einmal um den Block eskortieren und warten, bis er ausgiebig an jedem Grasbüschel geschnuppert und irgendwann endlich den richtigen gefunden hatte, um sein Geschäft zu erledigen, und dann begann das ganze Ritual von vorn. Und noch mal. Und noch mal. Mit Elvis gab es so etwas wie zwei Minuten nicht. Zwanzig Minuten kamen der Sache schon näher. Und sie konnte Kyle nicht zwanzig Minuten alleine lassen, auch wenn seine Mutter im Nebenzimmer schlief. Faith lag so gut wie im Koma. Sie konnte nicht einfach abhauen. Wer wusste, was passieren würde? Wie oft hatte sie schon in der Zeitung gelesen, dass Kinder bei Bränden starben, während ihre Schutzbeauftragten außer Haus waren? Ich habe ihn nur zwei Minuten allein gelassen !
»Okay, also was kann ich machen?«, fragte Cindy den leeren Flur.
Hättest mich eben nicht so eilig loswerden sollen , hörte sie ihre Mutter sagen.
Was ?, fügte ihre Schwester hinzu. Du denkst, das wäre ein Problem? Da solltest du mal einen Tag in meinem Haus verbringen .
In diesem Moment fing das Baby wieder an zu schreien.
»Damit wäre das geklärt.« Cindy schrieb eine kurze Nachricht
für Faith, dass sie mit Kyle einen Spaziergang machen würde, und legte sie vor die Schlafzimmertür. »Deine Windel wechseln wir später«, erklärte sie dem Baby, trug es nach unten und nahm den Schlüssel von dem Haken neben der Haustür.
Sie entdeckte den großen Kinderwagen neben dem Haus und legte Kyle hinein, wobei die durchdringenden Schreie des Kleinen Elvis’ andauerndes Gebell lautstark begleiteten. Sie ließ den Kinderwagen in der Einfahrt stehen, rannte die Treppe zu ihrem Haus hinauf und schloss die Tür auf. Elvis schoss ihr entgegen wie eine Kanonenkugel und hätte sie um ein Haar umgeworfen. »Wie bist du aus der Küche gekommen?«, fragte Cindy verblüfft, während sie zusehen musste, wie Elvis die Treppe hinunterlief und gegen ein Rad des Kinderwagens pinkelte. »Na toll. Das ist einfach super. Okay, warte. Ich hol rasch deine Leine.« Cindy machte den Flurschrank auf und strich auf der Suche nach der Hundeleine über leere Regalböden. »Wo ist sie? Verdammt noch mal, wo bist du?« Wo hatte sie das blöde Ding hingelegt? »Okay, bleib schön hier«, wies sie den Hund an, worauf dieser laut bellte und sich zum Bürgersteig wandte. »Wo ist die Leine?«, schrie Cindy das leere Haus an, sah auf der Anrichte im Wohnzimmer und in der Küche nach, wobei sie sich anstrengte, nicht zu genau auf den Fußboden zu blicken.
Schließlich fand sie sie in einer Schublade, in der sie für gewöhnlich alte Geburtstagskarten und Briefpapier aufbewahrte, das ihr von diversen Wohlfahrtsorganisationen unaufgefordert zugeschickt worden war, damit sie eine Spende machte. »Elvis«, rief sie, als sie mit der Leine in der Hand aus dem Haus trat und gerade noch sah, wie Elvis um die Ecke verschwand. »Komm zurück.« Cindy schob den Kinderwagen zum Bürgersteig und blieb dann abrupt stehen, während ihr Herzschlag für einen Moment aussetzte.
Das Baby war weg.
Sie wusste es schon, noch bevor sie nach unten blickte.
Sie hatte ihn nicht länger als sechzig Sekunden alleine gelassen,
doch die hatten irgendeinem Verrückten gereicht, der sich hinter einem der Ahornbäume verborgen hatte, um das Kind ihrer Nachbarn zu entführen. Der Täter saß längst in seinem Wagen und raste zu einem unbekannten Ort davon. Sie hatte ein weiteres Kind verloren. Die Sellicks würden ihr Baby nie wieder sehen.
»Nein«, flehte Cindy und blickte widerstrebend in den Kinderwagen. Ihre Knie wurden weich, als sie Kyles riesige blaue Augen zu sich hochstarren sah. Er hatte die Zunge zwischen den Lippen, und auf ihrer Spitze tanzten winzige Bläschen.
Er war da. Er war sicher.
Cindy sank auf den Bürgersteig, als ob ihre Beine aus Papier wären, während ihr Herz in ihrer Brust förmlich zu platzen drohte. »Wenn du so weitermachst, kriegst du noch einen Herzinfarkt«, flüsterte sie in ihre
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