Bevor der Abend kommt
sie ist?«
»Sie kennen doch die Redensart, oder? Des Finders Freud …«
»Was?«
»… ist des Verlierers Leid.«
»Wer sind Sie? Was haben Sie mit Julia gemacht?«
»Ich muss jetzt Schluss machen.«
»Warten Sie! Bitte, legen Sie nicht auf!« Im nächsten Moment war die Leitung tot, und Cindy hatte das Gefühl, Julia wäre in ihren Armen gestorben. »Nein! Nein!«
»Mom?«, rief eine ängstliche Stimme von der Tür. »Mom, was ist los?«
Die Bettdecke glitt von ihrem nackten Körper, als Cindy herumfuhr und ungläubig die Augen aufriss, als sie erkannte, wer auf sie zukam. »Julia! Du bist hier. Dir geht es gut.« Sie schlang die Arme um ihre Tochter und drückte sie fest an sich. »Ich hatte einen schrecklichen Alptraum. Es war so real. Aber es geht dir gut, es geht dir gut.« Sie küsste Julia auf die Stirn und die Wange und spürte, wie die Haut mit jeder Berührung ihrer Lippen kälter wurde. »Mein armes Baby. Du bist ja eiskalt. Komm ins Bett. Was ist los, Schätzchen? Bist du krank?« Als Cindy ihre Tochter aufs Bett legte, erstarrte Julias Körper; sie sank auf das Kissen, ihre blonden Haare trieben um ihr Gesicht wie Tang in seichtem Gewässer. »Jetzt ist alles gut, Schätzchen. Mommy ist hier. Ich passe auf dich auf.«
Julia starrte ihre Mutter aus kalten, toten Augen an und sprach, ohne die Lippen zu bewegen. »Das ist alles deine Schuld«, sagte sie.
Cindy schrie.
Und dann war plötzlich jemand an ihrer Seite, berührte ihre Schulter und strich über ihren Arm. »Mom! Mom! Was ist los? Mom, wach auf. Wach auf.« Dann spürte sie etwas Feuchtes an der Wange und ein rhythmisches Klopfen an der Seite des Bettes.
Cindy schlug die Augen auf und sah die zitternde Heather neben sich sitzen. Das durch die Fensterläden fallende Mondlicht zeichnete ihr Gesicht mit einer Reihe breiter horizontaler Streifen. Elvis stand auf den Hinterbeinen neben dem Bett, streckte seine eifrige Zunge nach ihrem Gesicht aus und schlug mit dem Schwanz begeistert gegen das Seitenteil des Bettes. »Was ist los?«
»Das sollst du mir sagen. Alles in Ordnung mit dir?« Irgendwo hinter Heather rührte sich etwas.
Cindy beugte sich vor und blinzelte vorbei an ihrer jüngeren Tochter in die Dunkelheit. »Ist da jemand? Julia? Bist du das?«
»Ich bin’s, Mrs. Carver«, erwiderte Duncan und trat neben Heather und Elvis an Cindys Seite. Er trug lediglich die Hose eines blau-weiß gestreiften Schlafanzuges, das dazu passende Oberteil trug Heather.
»Oh.« Eilig zog Cindy die Bettdecke ans Kinn. »Mein Bademantel«, sagte sie und wies vage in Richtung Fußende.
Heather nahm den grün-blau gestreiften Frottébademantel und legte ihn ihrer Mutter über die Schultern. »Wahrscheinlich hattest du einen Alptraum.«
Cindy starrte ausdruckslos zum Fußende, während die Einzelheiten ihres Traumes bereits verblassten wie kleine Seifenblasen, die in der Dunkelheit platzen und Julia mit sich nahmen. »Ein Alptraum. Ja. Es war furchtbar.«
»Möchtest du warme Milch oder irgendwas?«, fragte Heather. »Ich kann dir einen Becher machen.«
Cindy schüttelte den Kopf. »Ist Julia nach Hause gekommen?«
Selbst in der Dunkelheit erkannte Cindy, wie ihre jüngere Tochter die Stirn runzelte.
»Ihre Zimmertür ist zu«, vermeldete Duncan.
»Sie ist immer zu«, erinnerte Heather ihn. »Soll ich nachsehen?«
»Ich mache es selbst.« Cindy band den Bademantel zu und stieg aus dem Bett. »Geht ihr beiden wieder schlafen. Es ist spät.« Sie folgte ihnen aus dem Zimmer in den breiten Flur und blieb vor Julias Zimmertür stehen, während Elvis an ihren nackten Füßen leckte. Sie streckte die Hand nach der Klinke aus.
»Wenn du sie weckst, ist sie voll sauer«, warnte Heather.
Cindy wollte Anstoß an der Wortwahl ihrer Tochter nehmen, war jedoch zu müde. Sie drückte die Klinke herunter,
öffnete die Tür mit einem lauten Quietschen, steckte den Kopf in das Zimmer und spähte durch die Dunkelheit Richtung Bett.
Es war leer.
Cindy wusste es sofort, noch bevor Elvis an ihr vorbeirannte und mit den Stofftieren zu raufen begann, die auf dem Kopfkissen aufgereiht waren. Heather folgte ihm, stieß mit den Zehen gegen diverse CDs, die auf dem blauen Teppich lagen, und fluchte laut.
»Scheiße«, rief sie, als Cindy das Deckenlicht anmachte.
»Gut, dass Julia nicht hier ist«, bemerkte Duncan trocken.
»Wo zum Teufel steckt sie?« Cindy ließ ihren Blick über das Chaos schweifen, das das Zimmer ihrer Tochter darbot. Achtlos abgelegte
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