Bevor der Abend kommt
Und es tut mir auch Leid, um diese Zeit zu stören, wirklich, aber Julia ist nicht nach Hause gekommen, und ich habe den ganzen Tag
nichts von ihr gehört und mich halt gefragt, ob du mit ihr gesprochen hast.«
Es entstand eine längere Pause. »Nicht seit halb elf heute Morgen.«
»Sie hat dich nach ihrem Casting nicht angerufen?«
»Nein.«
»Und du machst dir keine Sorgen?« Cindy hörte die aufwallende Panik in ihrer Stimme.
»Warum sollte ich mir Sorgen machen?« Cindy erkannte den vormals vertrauten Ton wieder. Seine Anwaltsstimme, die sagte, ich habe keine Zeit für deine kleinen Ängste. »Ich erwarte nicht, dass sich meine Tochter Tag und Nacht stündlich bei mir meldet.«
»Ich auch nicht.«
»Du musst loslassen, Cindy …«, sagte Tom.
Tränen brannten in Cindys Augen. Wie kann ich etwas loslassen, das ich nie hatte, dachte sie.
»… sonst treibst du sie noch einmal aus dem Haus.«
Ich habe sie nicht vertrieben, du hast sie weggeholt, dachte Cindy verbittert. In deinem beschissenen BMW.
»Sie ist wahrscheinlich bei Sean.«
Cindy nickte.
»Denk nicht mal dran, ihn jetzt anzurufen«, sagte Tom.
Cindy legte auf, ohne sich zu verabschieden. »Arschloch«, flüsterte sie, als hätte sie Angst, dass er sie noch immer hören könnte. Eine Weile saß sie reglos im Bett, während Elvis sich an ihre Seite schmiegte. »Was ist mit dir?«, fragte sie den Hund. »Findest du, dass ich eine Glucke bin? Meinst du, dass ich sie noch einmal aus dem Haus treibe?«
Statt zu antworten, sprang der Hund vom Bett, lief zur Tür, blieb stehen und sah sich um, als erwartete er, dass sie ihm folgte.
»Ich glaube, du hast mich nicht verstanden.«
Der Hund lief rastlos vor der Tür auf und ab.
»Was? Du musst mal raus?«
Elvis bellte.
»Psst! Okay, okay. Ich geh mit dir raus.« Cindy schnürte den Bademantel enger, schlüpfte in ein paar abgetragene weiße Pantoffeln und stapfte die Treppe zur Haustür hinunter. »Ich kann nicht glauben, dass ich das mache. Wehe, du musst nicht.« Sie öffnete die Tür und trat hinaus in die kühle Nachtluft. Sofort stürmte Elvis die Stufen hinunter und war im nächsten Moment außer Sichtweite. »Elvis, warte! Wohin läufst du?« Sie sah etwas Helles über den Rasen vor dem Haus huschen und in den Büschen verschwinden, die ihr Grundstück von dem der Nachbarn trennten. »Elvis! Komm zurück. Ich fass es nicht.« Die Pantoffeln flappten laut wie Gummilatschen, als Cindy die Stufen hinuntertappte. »Elvis, kommst du hierher. Du bist ein ganz böser Hund.« Na klar, wenn er das hört, kommt er bestimmt sofort. »Du bist ein ganz lieber Hund, Elvis«, versuchte sie es erneut. »Komm zu Frauchen.« Aber sie war nicht sein Frauchen. Julia war sein Frauchen. Womit sie so etwas Ähnliches wie die Oma wäre. »Mein Gott«, jammerte sie.
»Alles in Ordnung, Cindy. Er ist hier drüben«, verkündete eine Stimme irgendwo neben ihr.
Cindy stockte der Atem. Blitzschnell drehte sie sich in die Richtung um, aus der die Stimme gekommen war.
»Tut mir Leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken.« Die Stimme kam von jenseits der Büsche. »Ich bin’s, Ryan.«
Cindy streifte ihre Pantoffeln ab und zwängte sich barfuß auf feuchtem Boden zwischen den kratzenden Büschen hindurch in den Vorgarten der Sellicks, wo Ryan auf der obersten Treppenstufe vor dem Haus hockte so wie seine Frau Faith am Nachmittag. Das Licht von zwei Laternen links und rechts neben der Haustür beleuchtete seine feinen Gesichtszüge: die lange, gerade Nase, die schmalen Lippen, die ausgeprägten Wangenknochen und die kleine Kerbe im Kinn. Dunkle Haare fielen in seine Stirn und auf den Kragen seines Hemdes, das entweder
schwarz oder braun war wie seine Augen. Julia hatte ihn immer für enorm attraktiv gehalten, erinnerte Cindy sich, als sie näher kam und sah, dass Elvis den Kopf behaglich in Ryans Schoß gebettet hatte und zufrieden an dem steifen Stoff seiner Jeans leckte. Sie bemerkte, dass auch Ryan barfuß war und unter dem Auge eine lange, frische Kratzwunde hatte, die am Nachmittag noch nicht da gewesen war. »Tut mir Leid, dass ich störe.« Cindy blieb am Fuß der Treppe stehen, weil sie nicht noch weiter in seine Privatsphäre eindringen wollte. »Elvis, komm hier runter.«
»Kein Problem.« Ryan kraulte den Hund hinter den Ohren. »Ich bin ehrlich gesagt ganz dankbar für die Gesellschaft.«
»Alles in Ordnung?«
»Ich konnte nicht schlafen.«
Cindy nickte. »Wie geht’s Faith?«
Er zuckte die Achseln, als
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