Bevor der Abend kommt
wüsste er nicht, wie er die Frage beantworten sollte.
»Meine Schwester hatte postnatale Depressionen«, überbrückte Cindy das Schweigen. »Nach der Geburt beider Kinder.«
»Wirklich? Und was ist passiert?«
Cindy bemühte sich angestrengt, sich die Zeit ins Gedächtnis zu rufen, hatte jedoch wie ihre Mutter keine Erinnerung daran, dass Leigh unter irgendwelchen Depressionen gelitten hatte. »Ich schätze, sie sind irgendwann wieder weggegangen.«
»Das Gleiche sagen ihre Ärzte in etwa auch. Offenbar ist es durchaus verbreitet.«
»Das habe ich auch gehört.«
»Sie haben nicht darunter gelitten?«
»Nein, ich hatte vermutlich Glück.« Cindy hatte zwei komplett unproblematische Schwangerschaften und ebensolche Geburten hinter sich gebracht und die Säuglingszeit ihrer Töchter genossen, auch wenn Julia vom Tag ihrer Geburt an fordernd gewesen war und unter Koliken gelitten hatte. Heather
hingegen hatte nach zehn Wochen durchgeschlafen, sich in der Woche darauf an drei Mahlzeiten am Tag und mit dreizehn Monaten selbst an das Töpfchen gewöhnt. Cindy hockte sich auf die unterste Stufe und starrte die stille Straße hinunter, als würde sie erwarten, dass ihre ältere Tochter aus dem Schatten ins Licht einer Laterne trat. »Hat der Arzt irgendwelche Medikamente verschrieben?«
»Valium, aber das scheint nicht viel zu nützen. Vielleicht braucht sie etwas Stärkeres.«
»Vielleicht braucht sie einen Therapeuten.«
»Vielleicht.« Ryan Sellick massierte seinen Nasenrücken, als wollte er einen aufkeimenden Kopfschmerz vertreiben.
»Was ist mit Faiths Mutter? Besteht irgendeine Möglichkeit, dass sie für ein paar Wochen aushilft?«
»Ihre Mutter ist schon ein paar Mal aus Vancouver hier gewesen. Ich kann nicht erwarten, dass sie jedes Mal einfliegt, wenn es ein Problem gibt. Und meine Eltern sind beide tot …«
»Und wenn Sie ein Kindermädchen engagieren würden?«
»Davon will Faith nichts wissen. ›Was für eine Mutter kann denn nicht auf ihr eigenes Kind aufpassen?‹, sagte sie jedes Mal, wenn ich das Thema aufbringe.« Ryan schüttelte den Kopf und tupfte behutsam auf den Kratzer unter seinem Auge. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann mir nicht weiter ständig freinehmen, so viel ist klar. Ich bin heute erst gegen Mittag ins Büro gekommen und musste dann schon wieder gehen, als Sie angerufen haben.«
»Vielleicht könnte ich ein paar Mal die Woche vorbeischauen«, bot Cindy an.
»Nein. Ich kann nicht erwarten, dass Sie sich solche Umstände machen.«
»Das macht überhaupt keine Umstände«, versicherte Cindy ihm. »Und ich rede mit Heather und Julia, ob sie nicht hin und wieder mal babysitten wollen.«
Ryan lachte unerwartet herzlich.
»Was ist so komisch?«
Er schüttelte den Kopf. »Julia wirkt einfach nicht wie der Babysitter-Typ.«
Da musste Cindy ihm Recht geben. »Ich wusste gar nicht, dass Sie meine Tochter so gut kennen.«
»Man sieht es sofort an ihrem Gang. Niemand stolziert über die Straße wie Julia.«
Cindy sah Julias Bild aus dem Schatten treten und auf sie zukommen, mit baumelnden Armen, den Kopf erhoben, die Schultern im Rhythmus mit ihren Hüften rollend. Sie bewegt sich, als würde ihr eine Kamera folgen, dachte Cindy und zeichnete jede Bewegung auf.
»Bei Ihnen zu Hause alles in Ordnung?«, fragte Ryan.
Wovon redete er? »Wie meinen Sie das?«
»Na ja, Julia und Heathers Freund. Ich habe seinen Namen vergessen …«
»Duncan.«
»Ja, Duncan. Zwischen den beiden ging’s heute Morgen ziemlich hoch her.«
»Sie haben sich gestritten?«
»In der Einfahrt. Ich war im Haus und habe sie brüllen hören.« Er wies auf das Esszimmer links neben der Haustür.
Das war wahrscheinlich, als ich den Chardonnay kaufen war, dachte Cindy und erinnerte sich mit echter Wehmut an das Mittagessen, das schon so lange her schien. Worüber sollte Julia mit Duncan streiten? Warum hatte er ihren Streit nicht erwähnt? Und warum hatte auch Heather nichts gesagt?
»Um welche Uhrzeit war das?«
»Kurz vor elf, glaube ich.«
Julia hatte sich also mit Duncan gestritten, kurz bevor sie zu ihrem Termin aufgebrochen war. Vielleicht hatte der Streit sie aufgeregt und dazu geführt, dass sie den wichtigsten Vorsprechtermin ihrer Karriere vermasselt hatte. Vielleicht war sie deswegen nicht nach Hause gekommen – weil sie zu wütend,
beschämt und erregt war. Dieser verdammte Duncan, dachte Cindy und stand auf. Ich hätte nie erlauben dürfen, dass er einzieht. »Ich sollte
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