Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Bevor der Abend kommt

Titel: Bevor der Abend kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
Vom Netzwerk:
Menschen in Gefahr geraten? Warum ist es irgendwie weniger bedeutsam, wenn es bloß Frauen betrifft? Diese Haltung macht mich wirklich krank.« Wow, dachte sie. Woher war das jetzt gekommen?
    Neil lehnte sich zurück und hob kapitulierend die Hände. Cindy machte sich auf seine Entgegnung gefasst, irgendeine smarte Replik, die sie auf ihren Platz verweisen und sie auf die Rolle einer wütenden, männerfeindlichen Emanze reduzieren würde. Stattdessen sagte er: »Da haben Sie Recht.«
    Ich habe Recht, dachte sie und spürte ihre Erleichterung wie einen plötzlichen unerwarteten Regen. Sie schlug sich mit der offenen Hand auf die Brust. »Ich glaube, dass hat noch nie jemand zu mir gesagt.«
    Er lachte. »Vermutlich habe ich einfach nie richtig darüber nachgedacht, aber nachdem ich das nun getan habe, verstehe ich, was Sie meinen – jedes Drama handelt von Menschen in Gefahr, von einem Zeitpunkt in ihrem Leben, wo sie gefährdet sind, ein Wagnis eingehen, eine wegweisende Entscheidung treffen oder sich selbst retten müssen. Der Begriff ›Frauen in Gefahr‹ ist wirklich herablassend.«
    Cindy lächelte. Er muss wirklich dringend mit mir schlafen wollen, dachte sie. »Hat Trish Ihnen erzählt, dass ich seit drei Jahren keinen Sex mehr hatte?« Die Worte waren über ihre Lippen, bevor sie sich bremsen konnte.
    Neil, der die Hand gerade nach seinem Glas ausstreckte, erstarrte … »Ich glaube nicht, dass sie das erwähnt hat, nein.« Langsam und vorsichtig führte er das Glas an den Mund, trank einen großen Schluck Wein und behielt ihn im Mund, beinahe so, als hätte er Angst zu schlucken.

    »Meinen Sie, er hat jetzt genug geatmet?«, fragte Cindy und genoss sein Unbehagen.
    Er schluckte und atmete tief aus. »Er hat auf jeden Fall lange genug geatmet.« Der Kellner trat an ihren Tisch und fragte, ob sie schon gewählt hatten. Neil griff nach der Speisekarte. »Ich hab vergessen, was ich wollte«, sagte er verlegen und überflog mit seinen blauen Augen die Tageskarte. »Ich glaube, ich nehme einfach die Empfehlung des Hauses.«
    »Die Kalbsleber klingt köstlich«, sagte Cindy und dachte, wie nett es sich anfühlte, die Situation ausnahmsweise einmal zu beherrschen. Wann hatte sie zuletzt das Gefühl gehabt, irgendwas zu beherrschen? »Und als Vorspeise hätte ich gern den Endiviensalat mit Birnen.« Sie hatte auf einmal einen Mordshunger.
    »Ich nehme die frischen Calamares vorweg«, sagte Neil.
    »Gute Wahl«, erklärte der Kellner ihm, bevor er mit den Speisekarten abzog.
    Was war mit meiner Wahl, fragte Cindy sich. Sie fühlte sich seltsam geschnitten und ihr neues Machtgefühl schon wieder schwinden. Was war nur mit ihr los? Was hatte sie dazu getrieben, einem praktisch Fremden zu erzählen, dass sie seit drei Jahren keinen Sex mehr gehabt hatte? Der Mann war Trishs Steuerberater, Herrgott noch mal. Was musste er von ihr denken! »Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass die Tage kürzer werden?«, fragte sie ein bisschen verzweifelt.
    Neil blickte aus den Fenstern, die die gesamte Ost- und Südfront des Restaurants einnahmen. »Ja, das werden sie wohl.« Als er Cindy wieder ansah, lag in seinem Blick eine Mischung aus amüsierter Neugier und sorgenvoller Erwartung, so als hätte er ein wenig Angst vor dem, was sie als Nächstes sagen würde, während er sich gleichzeitig darauf freute.
    »Erzählen Sie mir von den Freuden des Steuerberatens, wenn es denn welche gibt.«
    »Ich denke doch«, erwiderte Neil mit einem Lächeln in der Stimme. »Zahlen haben etwas sehr Befriedigendes.«

    »Inwiefern?«
    »Zahlen sind, was sie sind. Sie sind sehr geradeaus und offen. Im Gegensatz zu Menschen.«
    Cindy nickte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie mit Menschen große Schwierigkeiten haben.«
    Neil zuckte die Achseln und hob sein Glas zum Prosit. »Auf die Menschen.«
    Cindy stieß mit ihm an, mied jedoch seinen Blick. »Dann waren Sie wahrscheinlich schon immer richtig gut in Mathe, was?«
    »Stimmt.«
    »Ich war grauenhaft in Mathe. Es war mein schlechtestes Fach.«
    »Mein schlechtestes Fach war Englisch.«
    »Das war mein bestes«, sagte Cindy.
    Es entstand ein kurzes Schweigen. »Können wir jetzt wieder über Sex reden?«, fragte Neil, und Cindy lachte unwillkürlich.
    »Können wir vielleicht einfach vergessen, dass ich es erwähnt habe?«
    »Das könnte schwierig werden.«
    »Können wir es versuchen?«
    »Unbedingt.«
    Wieder schwiegen sie beide. »Hören Sie, ich bin offensichtlich nicht besonders gut in

Weitere Kostenlose Bücher