Bevor der Abend kommt
verkauft habe, um meinem Ex das Jura-Studium zu finanzieren, ziemlich normal so weit. Dann wurde ich schwanger, hörte auf zu arbeiten und blieb mit Julia zu Hause, und zwei Jahre später kam dann Heather, was Julia mir nie ganz verziehen hat.« Cindy bemühte sich um einen lockeren Ton. »Wie man an ihrer Entscheidung, bei ihrem Vater zu leben, sehen kann.«
»Aber Sie haben sie trotzdem gesehen, oder? An Wochenenden? Oder in den Ferien?«
»Sie war ein Teenager. Ich habe sie gesehen, wenn sie mich in ihrem vollen Terminplan unterbringen konnte. Und das war nicht allzu oft.« Cindy spürte, wie sich bei der Erinnerung ihr Magen zusammenzog.
»Das war bestimmt nicht leicht für Sie.«
»Es war furchtbar. Ich hatte das Gefühl, jemand hätte mir die Eingeweide herausgerissen. Ich habe jeden Tag geweint. Ich konnte nicht schlafen und hab mich gefragt, was ich falsch gemacht hatte. Ich hatte ehrlich das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Damals hat Meg mir einen Job in ihrer kleinen Boutique angeboten. Erst habe ich abgelehnt, aber schließlich habe ich beschlossen, dass ich irgendwas machen musste. Und es war super. Ich arbeite drei Nachmittage die Woche; und ich kann mir freinehmen, wenn mir danach ist. Und zu alledem ist auch noch meine Tochter zurückgekommen.« Wieder blickte Cindy zu ihrer Handtasche.
»Bewahren Sie sie da drin auf?«, fragte Neil.
Cindy lächelte. »Verzeihen Sie. Sie sollte bloß anrufen. Tut mir Leid, dass ich Ihnen das alles aufgebürdet habe. Können wir uns beide einen Gefallen tun und meinen Ex-Mann und meine Scheidung nie wieder erwähnen?«
»Darauf trinke ich.« Sie stießen an.
»Jetzt sind Sie dran.« Cindy lehnte sich zurück und nippte an ihrem Wein. »Die Geschichte der Familie in fünfzig oder weniger Worten.«
Er lachte. »Nun, ich war verheiratet.«
»Wie lange?«
»Fünfzehn Jahre.«
»Und seit wann sind Sie geschieden?«
»Ich bin gar nicht geschieden.«
»Oh?«
»Meine Frau ist vor vier Jahren gestorben.«
»Oh, das tut mir sehr Leid.«
»Sie ist eines Morgens aufgewacht und sagte, sie würde sich nicht ganz wohl fühlen, und sechs Wochen später war sie tot. Eierstockkrebs.«
»Wie furchtbar. Trish hat mir nicht erzählt …«
»Ich bezweifle, dass Sie es überhaupt weiß. Ich kenne sie erst seit kurzem, und sie hat mich nur gefragt, ob ich verheiratet sei und ob ich Interesse hätte, mit ihrer Freundin auszugehen.«
Cindy schüttelte den Kopf. »Und Sie Ärmster haben ja gesagt.«
»Ich habe ja gesagt.«
»Haben Sie Kinder?«
»Einen Sohn. Max. Er ist siebzehn. Toller Junge.«
Cindy versuchte, sich zu erinnern, wie Julia mit siebzehn ausgesehen hatte, aber die Jahre zwischen vierzehn und einundzwanzig waren in ihrem Kopf zusammengeschmolzen wie Schokolade, die man in der Sonne hatte liegen lassen. All die verlorenen Jahre. Jahre, die sie nie zurückbekommen würde.
Plötzlich stand der Kellner neben ihnen. »Endiviensalat mit Birnen für die Dame«, verkündete er, als ob sie es vielleicht vergessen hätte. »Calamares für den Herren.« Er stellte die Teller ab. »Guten Appetit.«
»Danke.« Cindy nahm ihre Gabel und stocherte in ihrem Salat, während sie einen weiteren verstohlenen Blick auf ihre Handtasche warf. Hi, Mom, tut mir Leid, dass ich mich nicht früher gemeldet habe, aber ich hatte einen absolut unglaublichen Tag . Doch Cindys Telefon schwieg störrisch weiter, und Julia blieb wie immer quälend unerreichbar.
6
Kurz nach zwei durchdrang das Klingeln des Telefons Cindys Schlaf wie eine stumpfe Klinge. Sie streckte den Arm aus, schlug mit dem Handrücken gegen die Nachttischkante und griff mit einem unterdrückten Schrei nach dem Hörer. »Hallo?«, sagte sie und erkannte den Klang der eigenen Stimme kaum wieder.
»Ich habe gehört, Sie haben Ihre Tochter verloren«, sagte der Anrufer.
Schlagartig war Cindy hellwach, ihr Körper starr, sie hatte die Füße aus dem Bett geschwungen, bereit loszurennen. »Wer ist da?«
»Wer hier ist, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass ich sie gefunden habe.«
Cindys Blick huschte durch das Dunkel zum Fenster, als wäre Julia durch die Schlitze der Fensterläden verschwunden und würde sich nun zwischen den Blättern des roten Ahornbaumes im Garten verstecken. Ihr Herz pochte laut in ihren Ohren wie die rastlose Brandung des Ozeans. »Wo ist sie? Wie geht es ihr?«
»Sie sollten besser auf Ihre Kinder aufpassen«, tadelte der Anrufer sie.
»Bitte, können Sie mir einfach sagen, wo
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