Bevor der Abend kommt
verstopften Avenue Road. Avenue Road, wiederholte sie stumm, wandte sich in die entgegengesetzte Richtung und wartete, bis Elvis sich im Vorgarten der Nachbarn erleichtert hatte. Was für ein seltsamer Name für eine Straße, beinahe so, als wären der Stadt die Namen ausgegangen. »Wo bist du, Julia?«, wiederholte sie, als sie erneut stehen blieb, um auf Elvis zu warten, der seine Marke auf eine neu angelegte Rasenfläche setzte.
Sie bog links in die Poplar Plains Road und ging von Elvis geführt in südliche Richtung weiter. Es würde ein herrlicher Tag werden, dachte sie, als sie die warme Sonne auf ihren Armen spürte und eine sanfte Brise die Blätter der Bäume zerzausen sah. In einer Woche würde das Wintersemester der University of Toronto beginnen, Heather und Duncan würden wieder Seminare besuchen, Cindy würde mit all den anderen Filmbegeisterten in einem überfüllten Kino sitzen, und Julia würde … wo würde Julia sein?
Wo war sie jetzt?
»Wo bist du, Julia?«, flüsterte Cindy erneut und zerrte an Elvis’ Leine, als er zu lange an der Ecke Poplar Plains Road und Clarendon Avenue stehen blieb und sie erst wieder einholte, als sie in die Edmund Street bogen. »Beeil dich und erledige dein Geschäft«, erklärte Cindy ihm, verblüfft, dass der Hund sich augenblicklich hinhockte und einen dampfenden Haufen mitten auf den Bürgersteig setzte. Cindy hielt die Luft an, als sie seine Hinterlassenschaft in die durchsichtige Plastiktüte schaufelte. »Guter Junge«, sagte sie. So brav sollten alle meine Kinder auf mich hören, dachte sie.
Was hatte Sean gemeint, als er gesagt hatte, dass Julia nicht mehr sein Problem war? Die Trennung hatte ihn natürlich mitgenommen, aber er hatte so verbittert geklungen. Ich bin nicht derjenige, mit dem Sie reden sollten . Was genau hatte das zu bedeuten? Mit wem sollte sie denn reden?
»Verdammt, Julia, wo bist du?« Cindy nickte einem korpulenten Mann zu, der vor einem senfgelben Wohnhaus auf der anderen Straßenseite Seilchen sprang. Selbst aus der Entfernung konnte sie erkennen, dass er heftig schwitzte, und fragte sich, ob derart intensive körperliche Betätigung gut für ihn war. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach acht. Vielleicht war Julia bei ihrem frühmorgendlichen Fitness-Kurs. Ja, das war es. Sie hatte sich nach dem Casting wahrscheinlich mit Freunden getroffen, sie hatten den Nachmittag zusammen verbracht, waren gemeinsam Sushi essen gegangen, hatten Wein getrunken und gefeiert, bis es zu spät war, noch zu Hause anzurufen. Und nach dem Aufwachen war Julia direkt zu ihrem Yoga-Kurs gegangen. Es gab nichts, worüber sie sich Sorgen machen musste; nichts Schreckliches war passiert. Julia war nicht verletzt, missbraucht, entführt, ermordet und zerstückelt in den Ontariosee geworfen worden. Es ging ihr ausgezeichnet, und in zwei Stunden würde sie zurück sein, um zu duschen und ihr Haar für ihren garantiert geschäftigen Tag glatt zu föhnen. Sie hatte nicht angerufen, weil sie es einfach nicht gewohnt war, ihrer Mutter ihren Aufenthaltsort mitzuteilen. Ihr Vater hatte nie von ihr verlangt, dass sie sich – wie hatte er sich so taktvoll ausgedrückt – Tag und Nacht stündlich bei ihm meldete.
»Ich hoffe, Sie machen hinter Ihrem Hund sauber«, rief eine Frau aus dem Fenster einer Wohnung.
Cindy schwenkte den Plastikbeutel über dem Kopf. »Was glauben Sie wohl, was das hier ist?«, fauchte sie. »Eine Handtasche?«
Die Frau zog sich eilig zurück und schlug knallend das Fenster zu.
Es gab so viele wütende Menschen, dachte Cindy, als sie auf dem Nachhauseweg die Plastiktüte in einen bereits von ähnlichen Tüten überquellenden Mülleimer warf. Ich hatte immer Probleme mit deiner Wut , hörte sie Tom sagen, als sie die Einfahrt hinaufrannte und an die Haustür pochte.
»Ich verstehe nicht, wie du ohne Schlüssel aus dem Haus gehen konntest«, schimpfte Heather, füllte sich gähnend eine große Schale mit Cinnamon Toast Crunch, hockte sich an den Küchentisch und vergrub ihr Gesicht hinter der Morgenzeitung.
»Du hast mir gar nicht erzählt, dass Duncan und Julia sich gestern gestritten haben«, gab Cindy zurück.
»Es war keine große Sache.«
»Immerhin groß genug, um diverse Nachbarn zu alarmieren«, übertrieb Cindy.
»Wirklich? Wen denn?«
»Das ist nicht das Thema.«
»Es gibt kein Thema.«
»Worüber haben sie sich denn gestritten?«
»Über gar nichts.« Heather zuckte mit den Schultern und warf den vorderen Teil des
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