Bevor der Abend kommt
auf ihn gehört, dachte sie jetzt, während sie beobachtete, wie die sommerliche Bräune aus Ryans Gesicht wich. Warum musste sie jedes Mal vorschnell losschießen?
Ryan legte den Zeigefinger seiner linken Hand auf den Mund und warf einen nervösen Blick zum Schlafzimmer im ersten Stock. »Hören Sie, vielleicht sollten wir das lieber draußen besprechen. Ich möchte Faith nicht wecken. Sie war die halbe Nacht mit dem Baby wach.« Sie traten vor die Haustür. »Wovon zum Teufel reden Sie überhaupt?«
»Wo waren Sie gestern?«
»Wo ich war?«, wiederholte er, als müsste er die Frage erst mühsam begreifen.
»Wo waren Sie?«, fragte Cindy noch einmal.
»Ich war oben am Rocky Crest Golf spielen. Warum? Was …?«
»War Julia bei Ihnen?«
»Selbstverständlich nicht.«
»Woher haben Sie den Kratzer unter dem Auge?«
»Was?«
»War Julia das?«
»Nein. Natürlich nicht. Ich bin im Garten gegen einen Ast gelaufen.« Ryan drückte auf die Schwellung, als könnte er sie so tilgen. »Hören Sie, vielleicht erklären Sie mir erst mal, was hier los ist.« Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Wie kommen Sie auf den Gedanken, dass ich etwas mit Julia habe?«
»Julia hat sich vor kurzem von ihrem Freund getrennt. Er hat gesagt, dass sie sich mit einem anderen treffen würde.«
»Und wie kommen Sie darauf, dass ich dieser andere sein soll?«
»Man hat Sie zusammen gesehen. Im Park. Mit dem Baby.« Ryan verzog das Gesicht zu einer Landkarte aus fragenden Runzeln. »Ich weiß nicht … warten Sie … okay. Ich habe Julia im Park getroffen. Das war vor ein paar Wochen, glaube ich. Ich war mit Kyle dort. Julia hat den Hund ausgeführt. Wir haben uns ein paar Minuten lang unterhalten. Geht es etwa darum?«
Cindy versuchte, die neue Information zu verdauen. Konnte sie sich geirrt haben? Waren sich Ryan und Julia im Park nur zufällig über den Weg gelaufen? War das möglicherweise alles? »Ich habe bei Julias Sachen die Telefonnummer von Granger, McAllister gefunden«, sagte sie mit neuer Entschlossenheit.
»Und?«
»Und … was will Julia mit der Nummer von Granger, McAllister?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Hatte Tom ihr nicht einmal erklärt, dass Unschuldige ihre Geschichten selten ausschmücken und dass nur die Schuldigen sich verpflichtet fühlen, Antworten oder Ausflüchte zu liefern? Hatte sie sich geirrt, als sie angenommen hatte, dass Ryan der geheimnisvolle neue Mann in Julias Leben war? War er so unschuldig, wie es den Anschein hatte?
Wie von selbst ging in diesem Augenblick die Tür auf, und eine gespenstische Erscheinung stand im Flur. »Das ist wahrscheinlich
meine Schuld«, sagte Faith mit einer Stimme, die von irgendwo außerhalb ihres Körpers zu kommen schien. »Tut mir Leid, Cindy. Ich habe vergessen, Ryan zu sagen, dass er Sie anrufen soll.«
Ryan eilte seiner Frau entgegen, die blass und mit glasigen Augen in einem langen weißen Baumwollnachthemd vor ihnen stand, und legte schützend einen Arm um sie. »Was soll das heißen? Was ist deine Schuld?«
»Vor etwa einem Monat«, berichtete Faith ausdruckslos, »habe ich mich ausgesperrt. Ich wusste nicht, was ich machen sollte – das Baby war drinnen -, und dann habe ich Julia vorbeigehen sehen und sie gebeten, Ryan auf der Arbeit anzurufen. Dann ist mir aber eingefallen, dass wir noch einen Ersatzschlüssel unter der Türmatte aufbewahren, sodass sie ihn gar nicht anrufen musste. Es tut mir sehr Leid.«
Cindy schüttelte den Kopf und fühlte sich dumm und niedergeschlagen. »Ihnen muss gar nichts Leid tun. Wenn überhaupt, bin ich diejenige, die sich bei Ihnen beiden entschuldigen sollte.«
»Stimmt irgendwas nicht?«, fragte Faith.
»Julia wird vermisst«, erklärte ihr Mann ihr.
»Vermisst?«
»Seit Donnerstagmorgen«, sagte Cindy. »Ich hatte gehofft, Ryan wüsste vielleicht etwas. Irgendwas.«
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen«, sagte Ryan.
»Wir haben sie nicht gesehen«, fügte Faith hinzu.
»Okay, also wenn Ihnen noch etwas einfällt, irgendwas …«
»Dann rufen wir Sie an«, sagten die Sellicks gemeinsam.
Cindy ging die Treppe hinunter und hörte, wie hinter ihr die Haustür ins Schloss fiel.
15
Die Polizei kam am Dienstagmorgen um kurz nach zehn.
Cindy war seit drei Uhr wach, als sie schweißgebadet und mit der festen Überzeugung aus dem Bett gesprungen war, dass sie vergessen hatte, ihre lebenserhaltenden Tabletten einzunehmen. Mit einem langen Schwall von Kraftausdrücken war sie wieder ins Bett
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