Bevor der Abend kommt
angeschrien, ich solle draußen bleiben, weil sie nackt sei und ich sie nur aufhalten würde. »Ich hab nur kurz den Kopf durch die Tür gesteckt und ihr viel Glück gewünscht«, wiederholte sie.
»Und dann bist du weggefahren?«, fragte der Keks vorwurfsvoll.
»Ja. Hin und wieder darf ich auch mal raus.«
»Ich war hier«, schaltete Heather sich ein.
»Sie waren hier, als Julia gegangen ist?«
»Ja. Das war so gegen elf Uhr.«
»Offenbar hatte Julia kurz vor ihrem Aufbruch einen Streit mit Heathers Freund«, unterbrach Cindy sie.
»Es war nichts.« Heather warf ihrer Mutter einen wütenden Blick zu. »Mich hat sie auch angeschrien.«
Detective Gill sah von seinem Notizblock auf und wechselte einen Blick mit seinem Partner. »Und Ihr Freund heißt …?«
»Duncan. Duncan Rossi.«
»Adresse?«
»Er wohnt hier.«
Wieder wechselten die Partner einen Blick, während Cindys Mutter verlegen auf ihrem Stuhl hin und her rutschte und der Keks die Augen verdrehte.
Meine Idee war das nicht, sagte Toms Miene.
»Und wo ist Duncan jetzt?«
»Unterwegs«, sagte Heather. »Ich weiß nicht, wohin«, fügte sie hinzu, als die Mienen der Versammelten deutlich machen, dass weitere Informationen erwartet wurden.
»Wir müssen mit ihm reden«, sagte Detective Bartolli.
Heather nickte und wandte sich ab.
»Wir brauchen eine Liste aller Freundinnen von Julia«, sagte Detective Gill.
Cindy fühlte sich unvermittelt von Schuldgefühlen übermannt, die sie beinahe umgeworfen hätten. Was für eine Mutter war sie, dass sie die Freundinnen ihrer Tochter nicht kannte?
»Diesbezüglich kann ich Ihnen vermutlich weiterhelfen«, sagte Tom, als hätte er Cindys Gedanken gelesen. »Julia hat bis vor kurzem bei mir gelebt.«
Die Polizisten nickten, als ob sie so etwas jeden Tag zu hören bekamen. Doch Cindy wusste, was sie dachten. Sie fragten sich, was für eine Mutter sie war, dass ihre Tochter es vorgezogen
hatte, bei ihrem Vater zu leben. Sie konnte es ihnen nicht verdenken. Wie oft hatte sie sich diese Frage selbst gestellt?
»Aber jetzt lebt sie bei Ihnen?«
»Ja«, sagte Cindy. »Seit fast einem Jahr.«
»Hätten Sie etwas dagegen, mir zu erklären, warum Ihre Tochter nicht mehr bei Ihnen lebt, Mr. Carver?«, sagte Detective Bartolli.
Tom lächelte, obwohl Cindy an seinem angespannten Kiefer erkannte, dass er durchaus etwas dagegen hatte. Befragt zu werden war ihm sichtlich unangenehm, weil er es nicht gewohnt war, durch bohrende Fragen in Verlegenheit gebracht zu werden. Das war schließlich sein Job.
»Tom und ich sind nach unserer Hochzeit in eine neue Eigentumswohnung gezogen«, antwortete der Keks für ihn. »Und der Raum ist nun mal begrenzt.«
»450 Quadratmeter«, sagte Cindy eben laut genug, dass jeder sie hören konnte.
»Wie stand Julia zu Ihrer erneuten Heirat?«, fragte Detective Gill Tom. »War sie deswegen aufgebracht oder traurig?«
»Die Hochzeit war vor beinahe zwei Jahren, und nein, Julia war kein bisschen aufgebracht. Sie liebt Fiona.«
Der Keks lächelte und warf stolz das Haar von einer Schulter auf die andere.
»Und wo waren Sie am Donnerstag, Mr. Carver?«
»Wie bitte?«
»Wir müssen das fragen«, entschuldigte sich Detective Gill.
»Wollen Sie andeuten, dass ich irgendwas mit dem Verschwinden meiner Tochter zu tun habe?«
»Mein Mann ist ein bedeutender Anwalt«, sagte der Keks.
Cindy verdrehte die Augen und staunte, dass Menschen tatsächlich Sätze sagen wie: »Mein Mann ist ein bedeutender Anwalt.« Sie hatte immer gedacht, so etwas gäbe es nur im Fernsehen.
»Ich war in meiner Kanzlei«, erwiderte Tom gereizt. »Sie
können das bei meinen Kollegen überprüfen, wenn Sie es für notwendig erachten.«
Detective Bartolli nickte, notierte die Information und wandte sich wieder Cindy zu, die das Unbehagen ihres Ex-Mannes heimlich genossen hatte. Wie oft bekam sie schließlich Gelegenheit zuzuschauen, wie Tom sich wand? »Hat Ihre Tochter irgendwelche Medikamente genommen?«, fragte er.
»Medikamente?«
»Schmerzmittel, Anti-Depressiva …«
»Julia ist nicht depressiv«, erklärte Cindy den beiden Polizisten, wie sie es schon mindestens ein halbes Dutzend Mal getan hatte. »Warum unterstellen Sie so hartnäckig, dass sie deprimiert war?«
»Mrs. Carver«, erklärte Detective Bartolli geduldig, »Sie müssen verstehen, dass wir täglich solche Vermisstenmeldungen bekommen, und in der Hälfte der Fälle stellt es sich heraus, dass die vermisste Person nur ein bisschen down war
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