Bevor der Abend kommt
öffnete. Den grünen Gallefleck auf ihrem weißen T-Shirt schien sie noch gar nicht bemerkt zu haben.
»Kann ich Ryan kurz sprechen?«
»Er ist nicht da.«
»Wo ist er denn?«
»Er spielt Golf. Irgendwo im Norden.«
»Können Sie ihm sagen, dass er mich anrufen soll, sobald er zurück ist?«
»Klar. Irgendwas nicht in Ordnung?«
»Ich muss bloß mit ihm reden.«
»Es könnte ziemlich spät werden.«
»Das macht nichts.«
In diesem Moment zerriss der durchdringende Schrei des
Babys im ersten Stock die Luft. Faith schloss die Augen und ließ die Schultern sacken. »Gestern hatten wir einen so schönen Tag«, sagte sie wehmütig.
»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte Cindy und blickte zur Treppe, wo Neil wartete.
»Nein. Gehen Sie nur. Ich komme schon zurecht.«
Doch als Cindy ihre eigene Haustür erreicht hatte, sah sie, dass Faith immer noch reglos mit fest geschlossenen Augen in der Tür stand.
»Vielleicht ist es besser, bis Dienstag zu warten und die Polizei mit Ryan reden zu lassen«, riet Neil ihr am Abend desselben Tages.
Sie saßen an Cindys Küchentisch und gossen sich den Rest einer Flasche roten Zinfandel ein. Es war beinahe Mitternacht. Heather und Duncan waren unterwegs; ihre Mutter schlief oben, und ihre Schwester war nach Hause gefahren.
Ryan hatte immer noch nicht angerufen.
»Das Schwein«, sagte Cindy. »Wo ist er?« Sie sah auf die Uhr. »Findest du, dass ich überreagiere?« Tom hätte das bestimmt gesagt.
»Nein.«
»Ich meine, das Mädchen könnte sich geirrt haben. Vielleicht war es gar nicht Julia, die es mit dem Baby gesehen hat. Und das Baby muss auch nicht Ryans gewesen sein. Und selbst wenn, bedeutet das noch nicht, dass Ryan Julias geheimnisvoller Liebhaber ist. Glaubst du, ich ziehe voreilige Schlüsse?« Tom hätte bestimmt gesagt, dass sie voreilige Schlüsse zog.
»Ich denke, du hast einen guten Instinkt. Und auf den solltest du dich verlassen.«
Cindy lächelte Neil Macfarlane an. Er sah müde aus. Ich glaube, ich könnte diesen Mann lieben, dachte sie. Laut sagte sie: »Es ist spät. Du solltest vielleicht besser fahren.«
Am nächsten Morgen um acht Uhr pochte Cindy an Ryan Sellicks Haustür.
»Immer mit der Ruhe«, rief Ryan müde von drinnen.
Cindy hörte ihn zur Tür schlurfen und wappnete sich für die bevorstehende Begegnung. »Ganz sachte. Mit Honig fängt man mehr Fliegen als mit Essig«, hörte sie die Ermahnung ihrer Mutter.
Sie war fast die ganze Nacht auf gewesen, hatte sich zurechtgelegt, was sie sagen, und sogar einstudiert, wie sie es vortragen wollte. Zur Entspannung hatte sie vorher zwanzig Minuten lang Tiefenatmungsübungen gemacht und war fest entschlossen, vollkommen ruhig zu bleiben. Doch in dem Moment, in dem sie Ryan barfuß in der Tür stehen sah, sein offenes Hemd über der locker auf der Hüfte sitzenden Khakihose, den schmalen Streifen schwarzer Härchen zwischen seinem Bauchnabel und seinem Hosenbund, das lange Haar, das ihm ungekämmt ins verschlafene Gesicht fiel, und den immer noch gut sichtbaren Kratzer unter seinem rechten Auge, bedurfte es all ihrer Willenskraft, ihm nicht sofort an die Kehle zu springen. Sie verlogenes, dreckiges Mistschwein , wollte sie brüllen, sagte jedoch stattdessen: »Ich muss mit Ihnen reden.«
Ryan wischte sich den Schlaf aus den Augen. »Stimmt irgendwas nicht?«
»Ich weiß nicht genau.«
»Geht es um Faith?« Er blickte besorgt über seine Schulter zur Treppe.
»Nein.«
Er sah sie verwirrt an.
»Es geht um Julia.«
»Um Julia?«
»Sie wird seit Donnerstag vermisst.«
»Vermisst?«
»Haben Sie sie gesehen?«
»Seit ich sie mit Duncan in der Einfahrt habe streiten sehen, nicht mehr. War das am Donnerstag?«
»Und seither haben Sie sie nicht gesehen?«
Ryan schüttelte den Kopf. Er war jetzt hellwach.
»Sie hat Ihnen gegenüber nichts davon gesagt, dass sie vielleicht über das lange Wochenende wegfahren wollte?«
Wieder das gleiche störrische Kopfschütteln. »Nichts.«
»Hat Sie Ihnen in letzter Zeit vielleicht anvertraut, dass sie deprimiert oder aufgewühlt war?«
»Warum sollte sie mir das anvertrauen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Cindy schlicht. »Vielleicht weil Sie beide miteinander schlafen?« Die Worte waren über ihre Lippen, bevor sie sie zurückhalten konnte. Verlass dich auf deinen Instinkt , hörte sie Neil sagen und erinnerte sich daran, dass er auch vorgeschlagen hatte, bis Dienstag zu warten und die Polizei Ryan befragen zu lassen. Warum hatte sie nicht
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