Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bevor der Morgen graut

Bevor der Morgen graut

Titel: Bevor der Morgen graut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Arnar Ingolfsson
Vom Netzwerk:
in einer Wunde endete; eine offene Schlagader pumpte ihm warmes Blut in die Hand. Dann nahm er noch wahr, dass jemand neben ihm stand, sich über ihn beugte und das Gewehr anlegte, das ihm aus der Hand gefallen war. Er machte noch einen schwachen Versuch, hochzublicken.
    »Wer bist du?«, fragte er. »Wa… warum?«
    Die Antwort hörte er nicht, und auch nicht den Schuss, der ihn direkt in den Kopf traf.
     
     
     
    Du fragst, warum. Ich weiß nicht, ob es darauf eine Antwort oder eine Erklärung gibt. Diese Tat ist so erhaben, dass sie jegliches Verständnis übersteigt. Ein Leben zu zerstören, ein Menschenleben. Die Nähe einer Person zu spüren und sich mit ihr auf Leben und Tod auseinander zu setzen. Und dann existiert sie auf einmal nicht mehr, was bleibt, ist ein Haufen Knochen, Fleisch und Blut. Erinnerungen, Gefühle, Wissen und Erfahrung eines ganzen Lebens sind ausgetilgt. Das ist ein überwältigendes Gefühl …
     
    … Du fragst, warum. Was willst Du hören? Eine genaue Definition der tierischen Instinkte, die sich anscheinend immer noch in einigen menschlichen Genen befinden? Diese Instinkte, die es dem Menschen ermöglichten, einen Entwicklungsprozess von Millionen Jahren zu überleben und das zu werden, was er ist oder glaubt zu sein …
     
    … Du fragst, warum. Macht es einen Unterschied, das zu wissen? Was geschehen ist, ist geschehen und kann nicht wieder rückgängig gemacht werden. Was ist das für ein Trieb, der den Jäger hinaustreibt in eine kalte Herbstnacht, um sich ein paar Gänse zu holen, die er dann nicht einmal essen mag … Oder der Trieb, der manche dazu bringt, Fische zu angeln, um sie anschließend wieder freizulassen, in der Hoffnung, dass sie am Leben bleiben und sich vermehren – und ein zweites Mal gefangen werden können.
    Mein Instinkt befiehlt mir zu töten. Ich jage Menschen, und sie entkommen mir nicht.

10:20
    I ch bin gefallen.«
    Sie befanden sich zu dritt in einem Untersuchungszimmer der Ambulanz des Fossvogur-Krankenhauses. Eine kleine junge Frau mit roten Haaren in Krankenschwestertracht, ein Kriminalpolizist und ein Junge, der auf der Untersuchungsliege lag und sämtliche Fragen, die ihm gestellt wurden, mit diesen drei Worten beantwortete: »Ich bin gefallen.«
    Seine Augen waren kaum sichtbar zwischen blauen, roten und gelben Schwellungen, seine Lippen waren aufgeplatzt, und an Stelle der oberen Schneidezähne, die ihm ausgeschlagenworden waren, sah man nur den blutigen Gaumen. Zwei Finger der linken Hand waren ganz offensichtlich gebrochen, und auf dem rechten Handrücken befanden sich scheußliche Brandwunden.
    »Wer hat dich so zugerichtet?«, fragte der Kriminalpolizist zum zehnten Mal und schaute zum Fenster hinaus. Aus seinen mandelförmigen Augen sprachen Langeweile und Verärgerung.
    »Ich bin gefallen.«
    Der Junge war frühmorgens auf einer Verkehrsinsel aufgefunden und im Krankenwagen zur Ambulanz gebracht worden. Die Verkehrspolizisten hatten die Kollegen von der Kriminalpolizei eingeschaltet.
    »Schuldest du irgendjemandem Geld?«, fragte der Kriminalpolizist.
    »Ich bin gefallen«, stöhnte der Junge.
    Die junge Krankenschwester taxierte heimlich den Kriminalbeamten. Er war asiatischer Abstammung, hatte schwarze Haare und eine gelbliche Hautfarbe. Sie schätzte ihn auf ungefähr vierzig, dafür schien er aber gut in Form zu sein, denn er war schlank und wirkte gepflegt und durchtrainiert. Ansonsten sah er eigentlich ganz normal aus, und sie fand, dass er überhaupt keine Ähnlichkeit mit den Helden von Krimiserien im Fernsehen hatte.
    »Mir ist schlecht«, sagte der Junge zu der Krankenschwester. »Gib mir mehr Contalgin.«
    »Ich darf die Dosis nur mit Erlaubnis des Arztes erhöhen«, sagte sie resolut, ohne ihre Blicke von dem Kriminalbeamten abzuwenden, der sich mit einer Digitalkamera beschäftigte. Sein schwarzes Haar war noch feucht – er schien erst vor kurzem unter der Dusche gestanden zu haben. Er roch angenehm nach irgendeinem Gel. Er trug einen Anzug mit exakten Bügelfalten und ein schönes dunkelblaues Hemd. Der schwarzeSchlips war vorschriftsmäßig gebunden. Er hatte offensichtlich an diesem Morgen gerade erst seinen Dienst angetreten.
    Vielleicht war er ganz in Ordnung, nur ein bisschen alt, resümierte sie. ›Birkir Li Hinriksson‹ las sie auf dem Namensschild, das an der Jackentasche klemmte.
    Der Patient fasste mit der nicht gebrochenen Hand nach ihrem Arm und sagte drohend: »Ich will mehr Contalgin.«
    Der Kriminalbeamte

Weitere Kostenlose Bücher