Bevor der Morgen graut
Birkir war wie hypnotisiert von diesem Anblick, und er wandte die Augen nicht einmal ab, als Jóhann rief: »Feigling. So hast du dir also die Teilnahme an Shotgun gedacht. Du kannst aber davon ausgehen, dass niemand diese Schüsse gehört hat und niemand dir zu Hilfe kommen wird. Jetzt ändert sich das Spiel, du hast deine Chance gehabt. Ich werde mir jetzt den Spaß machen und herausfinden, wie viele Magnum-Schüsse man einem menschlichen Körper verpassen kann, bevor er krepiert. Ein hochinteressantes Experiment.«
»Das muss ich wohl akzeptieren«, sagte Birkir und drehte sich Jóhann zu, der sich Schritt für Schritt näherte.
»Du Idiot hast also doch so was wie Courage«, sagte Jóhann und blieb in vierzig Metern Entfernung stehen.
»Gott steh uns beiden bei«, sagte Birkir leise, riss sich blitzschnell das Gewehr von der Schulter und feuerte ab, sobald der Lauf auf Jóhann gerichtet war. Im gleichen Augenblick ließ er sich ins Moos fallen. Jóhann drehte sich einmal im Kreis, als der Schrothagel ihn traf und stolperte drei Schritte zurück, konntesich aber auf den Beinen halten. Er krümmte sich unwillkürlich zusammen, richtete sich dann langsam wieder auf und drehte sich Birkir mit angelegtem Gewehr zu. Birkir rollte ein Stück weiter und schaffte es, seinen Kopf hinter einem Lavavorsprung in Deckung zu bringen, bevor die Schrotkörner über ihn hinwegpfiffen.
»Bist du da?«, rief Jóhann, der weitere drei Schüsse in Birkirs Richtung abgab, der sich gegen die Erde presste.
»Ein ganz schön cleverer Zug«, rief Jóhann. »Keine Ahnung, woher du die siebte Patrone hattest, aber jetzt hast du bestimmt keine mehr. Und hockst da im Dreck und wartest darauf, von meinen Schüssen zerfetzt zu werden.« Jóhann lud sein Gewehr wieder und tastete sich mit den Füßen vorwärts. Birkir konnte nicht erkennen, auf welche Weise sein siebter Schuss Jóhann verwundet hatte, mit der Patrone, die er heute Morgen in Ragnars Keller vom Boden aufgehoben und gedankenlos in die Tasche gesteckt hatte. Der siebte Schuss, den er in diesem Spiel zur Verfügung hatte, ohne dass Jóhann davon wusste. Wieder feuerte Jóhann ein paar Schüsse ab, aber nur einer ging in Birkirs Nähe nieder und prasselte gegen den Lavavorsprung.
Er sieht nichts, dachte Birkir, er zielt überhaupt nicht. Ganz langsam und ruhig richtete er sich auf und warf die Flinte so weit er konnte von sich. Dann kroch er schnell rückwärts von Jóhann weg, der sich immer noch auf die Stelle zubewegte, wo Birkir gelegen hatte und jetzt in die Richtung feuerte, wo das Gewehr mit lautem Krach hingefallen war. Dann stand Birkir vorsichtig auf und rannte los, den Kopf gesenkt haltend. Jóhann gab im Halbkreis einige Schüsse ab, und Birkir spürte, wie eine der Garben hinten an seinem Anorak aufprallte, aber der Abstand war inzwischen so groß, dass sie nicht hindurchdrangen. Er geriet aber ins Stolpern und und fiel hin. Er achtete darauf, kein Geräusch zu machen, als er wieder aufstand.So schnell er sich traute, schlich er sich von seinem Gegner weg und begann wieder zu rennen.
»Wo bist du? Verdammter Feigling!«, brüllte Jóhann hinter ihm her, »wo bist du?«
Birkir war inzwischen wieder auf der Straße angelangt und lief weiter zu der offenen Skihütte, in der Jóhann ihn erwartet hatte. Es gelang ihm, Licht zu machen, und nach einigem Suchen fand er endlich ein Telefon.
Birkir rief zuerst die Notrufnummer 112 an und verlangte einen Krankenwagen und eine Polizeistreife, um einen bewaffneten Mann festzunehmen, der gemeingefährlich und wahrscheinlich blind war, und außerdem jemanden, der mit Skiliften umgehen konnte. Das allerdings musste er näher erklären. Als er sicher sein konnte, dass seine Meldung verstanden worden war, lief er wieder hinaus und zum Lift. Die Tür zum Maschinenraum stand offen, aber die Apparatur war ihm völlig fremd. Deswegen beschloss er, nichts anzurühren, um nicht womöglich schlimmeres Unheil anzurichten. Er ging nach draußen und rannte den Berg hoch, auf den der Lift führte. Zwischendurch blieb er immer wieder stehen, um einen Blick in die Gondeln zu werfen, konnte aber nichts entdecken. Der Hang war sehr steil, und bald kam er nicht mehr so schnell vorwärts. Zum Schluss wurden seine Schritte immer langsamer, und er rang nach Atem. Er war schon fast ganz oben, als er eine Bewegung in der obersten Gondel bemerkte. Da schien jemand drin zu sein, er hörte, wie gegen das Glas gehämmert wurde, und die Gondel begann zu
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